Gegen das Zentralitätsdenken

Bespielt die ganze Stadt mit Kunst!

Besucher lassen sich beim Tag der offenen Tür der Bundesregierung im Bundeskanzleramt in Berlin unter der Skulptur "Berlin" des Künstlers Eduardo Chillida fotografieren.
Besucher lassen sich beim Tag der offenen Tür der Bundesregierung im Bundeskanzleramt in Berlin unter der Skulptur "Berlin" des Künstlers Eduardo Chillida fotografieren. © picture alliance / dpa / Jörg Carstensen
Von Klaus Englert |
In den Zentren großer deutscher Städte findet man viel Kunst im öffentlichen Raum. Weit weniger fündig wird man dagegen in den Außenvierteln. Dabei wäre es wichtig, gerade die Stadtränder mit Kunst zu gestalten, findet der Journalist Klaus Englert.
Seit einiger Zeit flackert in etlichen deutschen Städten wieder die leidvolle Diskussion über Kunst am Bau auf. Das hat gute Gründe: Denn in den Sechziger- und Siebziger-Jahren wurde im Bauwesen stur auf funktionale Tauglichkeit geachtet. Bis heute gehört Unwirtlichkeit zum Krankheitsbild unserer Städte.
Deswegen dachten viele Künstler, architektonische Mängel durch Kunst am Bau ausgleichen zu können. Denn die ist ja zumeist preiswerter als Abriss und Neubau.
Der Gedanke ist zwar nicht ganz abwegig, doch es fragt sich: Welche Gebäude werden denn in der Regel durch Kunst nobilitiert? Wohnanlagen finden sich darunter äußerst selten, wohl aber repräsentative Einrichtungen von Politik und Wirtschaft. Jeder kennt Eduardo Chillidas Skulptur vor dem Bundeskanzleramt.
Damit wäre sogleich ein weiterer neuralgischer Punkt angesprochen. Stets handelt es sich um besonders wichtige, durch Künstlerhand aufgewertete Institutionen. Institutionen, die nicht einfach nur in einflussreichen Städten stehen, sondern zudem in den urbanen Machtzentren.
Das Fortbestehen von Zentralität in unserem Denken hat bereits der französische Semiologe Roland Barthes vor nahezu 50 Jahren als schweren Ballast abendländischer Kultur kritisiert, doch in der nachfolgenden Zeit hat sich das Problem eher noch verschärft.

Aufwertung der Zentren

Unter diesem Dilemma leiden die städtischen Peripherien – Wohnanlagen, Geschäftsviertel oder Parks –, in denen in den seltensten Fällen Kunst – von anspruchsvoller Kunst ganz zu schweigen – anzutreffen ist.
Vielen Künstlern dürfte das recht sein: Denn Kunst gefällt sich in ihrer Überhöhung, die immer dann eintritt, wenn ein wichtiges Bauwerk zugleich die Aufmerksamkeit auf sie lenkt. Bei Chillidas Berliner Stahlskulptur verhält es sich ähnlich. Gleichzeitig soll das Kunstwerk das Ansehen des Kanzleramtes aufwerten.
Gerade diese Wirkung von Kunst ist äußerst problematisch. Ihre Funktion, einflussreiche gesellschaftliche Einrichtungen eigens hervorzuheben, ist in Deutschland ein Erbe von Kaiserzeit und Drittem Reich. In einer demokratischen Gesellschaft hat diese Indienstnahme nichts verloren.
Auch in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt bleibt dieses Erbe weithin unangefochten. Der neuen, vornehmlich aus Künstlern bestehenden Düsseldorfer Kunstkommission fiel nichts anderes ein, als ausgerechnet die künstlerische Aufhübschung des neuen Kö-Areals zu fordern. Dabei ist das Shopping-Quartier bereits äußerst dominant.
Auch das ist ein Beispiel für die Überhöhung von Kunst. Tatsächlich würde es in vielen Fällen ausreichen, durch einfache gestalterische Eingriffe Straßenzüge oder Plätze aufzuwerten.

Es geht um den gesamten öffentlichen Raum

Unerlässlich ist eine unvoreingenommene Betrachtung des öffentlichen Stadtraums durch möglichst viele Akteure. Die massiven Formen von Verwahrlosung lassen sich jedenfalls nicht allein durch künstlerische Dekorierung beseitigen.
Das war bereits den Verantwortlichen im Barcelona der Achtziger-Jahre bewusst, als man sich, trotz klammer Kassen, dazu entschloss, eine Stadtreparatur gemeinsam mit Künstlern und Landschaftsarchitekten anzugehen. Seither sind viele Künstler auch an den Stadträndern zu bewundern.
Eduardo Chillida montierte in einem ehemaligen Steinbruch, angrenzend an ein Arbeiterviertel, eine Stahlskulptur über einen künstlichen Teich. In Barcelona wollte man den gesamten öffentlichen Raum – und nicht allein die zentralen Plätze - bespielen.
So weit ist man nicht überall. Die Debatte "Kunst am Bau" ist in eine Sackgasse geraten. Neue Sichtweisen müssen her, nicht die aufgefrischten alten Leitbilder.

Klaus Englert promovierte in Germanistik und Philosophie an der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf, ist Journalist und Buchautor. Er schreibt für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" und den Hörfunk, vornehmlich über architektonische und philosophische Themen. Des Weiteren ist er als Kurator für Architektur-Ausstellungen tätig. Seine letzten Bücher sind "Jacques Derrida" (2009) und "New Museums in Spain" (2010), "Barcelona" (DOM Publishers, 2018). In Vorbereitung ist ein Buch über die Entstehung der modernen Wohnkultur.

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