Gefährlicher Rüstungswettlauf

Von Karl Friedrich Gründler · 30.11.2006
Anfang der 80er Jahre war die Aufstellung von atomar bestückten Mittelstreckenraketen der beherrschende Konflikt zwischen den Militärblöcken NATO und Warschauer Pakt. Am 30. November 1981 begannen die USA und die UdSSR Verhandlungen in Genf, um das drohende Wettrüsten vielleicht doch noch aufzuhalten.
Seit 1976 stationierte die Sowjetunion in Mittelosteuropa ihre hochmodernen Mittelstreckenraketen SS-20 mit je drei atomaren Sprengköpfen und einer Reichweite bis 5000 Kilometer. Sie lösten im Westen die so genannte Nachrüstungsdebatte aus, die im Dezember 1979 im NATO-Doppelbeschluss mündete.

Der Westen droht darin nach Ablauf von vier Jahren mit der Aufstellung von 109 Pershing-II-Raketen und 464 Marschflugkörpern Cruise Missile, wenn bis dahin keine Abrüstung im Mittelstreckenbereich vereinbart wird. Am 30. November 1981 beginnen in Genf die INF-Verhandlungen über die "intermediate nuclear forces", auf Deutsch nukleare Mittelstreckensysteme. Der Korrespondent Hans-Hagen Bremer:

"Als der amerikanische Chefdelegierte Paul Nitze um vier Uhr heute Nachmittag vor die Presse trat, war das, was er anzukündigen hatte für niemanden eine Überraschung. Während des etwa 90-minütigen Treffens heute Vormittag, das herzlich und geschäftsmäßig verlaufen sei, habe er sich mit dem sowjetischen Chefdelegierten Julij Kwizinski darauf geeinigt, dass die Einzelheiten der Verhandlungen im Verhandlungsraum bleiben sollten."'

Viel gibt es nicht geheim zuhalten. Beide Seiten verharren monatelang auf ihren Ausgangspositionen. Die USA fordern die Verschrottung der SS-20-Raketen, während Moskau dies ablehnt und darüber hinaus die französischen und britischen Atomwaffen in die Verhandlungen einbeziehen will. Julij Kwizinski resümiert später die Haltung seiner Vorgesetzten:

"Die Militärs wollten keine Übereinkunft und das Außenministerium unterstützte sie in allen Punkten"

Andererseits argwöhnen Kritiker der US-Regierung, diese wolle durch die Verhandlungen nur längst geplante Aufrüstungen legitimieren und mit den Pershing-II-Raketen, die ins Innere der Sowjetunion zielen, einen strategischen Vorteil erlangen.

Im Juli 1982 versuchen Nitze und Kwizinski, die festgefahrenen Verhandlungen auf einem Waldspaziergang unter vier Augen wieder anzuschieben. Nitze schlägt Obergrenzen für die Raketen auf beiden Seiten vor sowie die Einbeziehung von Kernwaffen tragenden Flugzeugen. Kwizinski erinnert sich:

"Nitze hatte damit ein kompliziertes Papier vorgelegt. Sich die Einzelheiten merken zu wollen, hatte keinen Sinn. Er wollte mir aber auch nichts Schriftliches geben. So setzten wir uns also auf einen Holzstapel, und ich schrieb seine Vorschläge in mein Notizbuch. Beim Notieren widersprach ich in einzelnen Punkten und Formulierungen."

Kwizinski versucht in den folgenden Wochen, die Moskauer Führung auf einen flexibleren Kurs zu bringen - vergeblich. Auch wird Nitze von US-Verteidigungsminister Caspar Weinberger zurückgepfiffen. Die Verhandlungen in Genf treten auf der Stelle, während die öffentliche Diskussion um den Sinn des atomaren Rüstungswettlaufs noch an Schärfe zunimmt. Am 21. und 22. November 1983 debattiert der Bundestag abschließend die Stationierung der Mittelstreckenwaffen. Bundeskanzler Helmut Kohl und Oppositionsführer Jochen Vogel:

Kohl: "Wer den Doppelbeschluss und damit den inneren Zusammenhang zwischen Verteidigung und Rüstungskontrolle auflöst, stellt letztlich das Bündnis selbst und seine Entscheidungs- und Lebensfähigkeit in Frage."

Vogel: "Wir sind das exponierteste Stationierungsland des Bündnisses. Gegen den Willen der Bundesrepublik kann nicht eine einzige Rakete stationiert werden. Ich werfe Ihnen vor, Herr Bundeskanzler, dass Sie die Möglichkeiten, die sich daraus für eine Politik der Beendigung des Rüstungswettlaufs ergeben, nicht genügend genutzt haben."

Einen Tag nach dem Bundestagsbeschluss treffen Kwizinski und Nitze in Genf erneut zusammen. Meinrad Prill berichtet vom Verhandlungsort:

"Das letzte Treffen der beiden Delegationen heute in der amerikanischen Mission an der Allee des Friedens dauerte nur 25 Minuten. Dann erschien Julij Kwizinski wieder vor der Tür und sagte auf Russisch 'Die Verhandlungen sind unterbrochen, ein neuer Termin wurde nicht bestimmt.'"

In den folgenden Monaten werden die Marschflugkörper und Pershing-II-Raketen gegen den Widerstand von Friedensaktivisten in Großbritannien, den Niederlanden, Deutschland und Italien aufgestellt. Zwei Jahre später startet der neue KPdSU-Generalsekretär Gorbatschow eine weit reichende Abrüstungsinitiative. Die Verhandlungen über Mittelstreckensysteme werden wieder aufgenommen und 1987 erfolgreich abgeschlossen. 1991 werden die letzten Pershing-II- und SS-20-Raketen verschrottet.