Gedopt ins neue Jahrzehnt?

Von Thomas Metzinger |
Alle reden über Cognitive Enhancement, über neue Medikamente zur Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit. Der anhaltende Medien-Hype, die Diskussion über neue pharmazeutische Hilfsmittel zur Verbesserung von Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Konzentrationsfähigkeit hat mittlerweile ungeahnte Ausmaße erreicht.
Sollten wir angesichts neuer Generationen von Wachmachern und Klugheitspillen an unseren Schulen und Universitäten Urintests vor Prüfungen einführen? Wenn verlässliche, alltagstaugliche Stimmungsaufheller für Gesunde verfügbar werden, werden wir dann schlechte Laune oder das prämenstruale Syndrom am Arbeitsplatz immer mehr als Formen der Ungepflegtheit und Verwahrlosung wahrnehmen, ähnlich wie wir es heute schon bei starkem Körpergeruch tun?

Hätten Sie etwas dagegen, wenn ältere Mitbürger oder auch Ihre Arbeitskollegen ständig leicht unter Strom stünden und leicht aufgekratzt und in bester Laune unter dem Einfluss der nächsten Generation von Schlaumachern mit großem Eifer ihre Projekte verfolgten? Was hielten Sie von einer Anpassung des Geschlechtstriebs bei älteren Mitbürgern?

Ist es akzeptabel, wenn Soldaten – vielleicht auf einer ethisch zweifelhaften Mission – unter dem Einfluss von Psychostimulanzien und Antidepressiva kämpfen und töten, die eine posttraumatische Belastungsstörung schon im Ansatz unterbinden, gleichzeitig aber ihre natürlichen moralischen Gefühle wie Scham, Schuld oder die Fähigkeit zur Einfühlung in andere Menschen gehemmt werden?

Alle reden über Cognitive Enhancement, und mittlerweile besteht schon die Gefahr einer selbsterfüllenden Prophezeiung – also, dass Menschen nur deshalb solche Substanzen ausprobieren, weil sie in reißerischen Medienberichten über "Brain-Doping" oder "Viagra fürs Gehirn" gehört haben. Wissenschaftler und Philosophen, die sich mit diesen Problemen auseinandersetzen, merken momentan immer deutlicher, dass die Medien ihre eigenen Interessen verfolgen und oft an einer nüchternen und sachlichen Diskussion überhaupt nicht interessiert sind.

Dabei ist mehr als unklar, wie gut diese Substanzen überhaupt funktionieren – beziehungsweise welche Aspekte von Kognition sie überhaupt verändern. Pillen die wirklich klüger machen, gibt es nicht. Es gibt keine Erkenntnisse zur Wirkung bei Gesunden, insbesondere nicht zu den Langzeitrisiken bei einer dauerhaften Einnahme, keine fundierte wissenschaftliche Risikoabschätzung. Deshalb ist klar, dass eine Freigabe solcher Substanzen für Gesunde ethisch verwerflich wäre: Eine Legalisierung ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt einfach keine Option.

Aber eines ist genauso klar: In offenen Gesellschaften darf jeder entscheidungsfähige Mensch zunächst einmal mit seinem Körper und mit seinem Geist machen, was er will. Diese größtmögliche Freiheit für das Individuum kennzeichnet unseren liberalen Rechtsstaat, sie ist ein schützenswertes Gut. Das eigentliche Problem besteht darin, unser liberales Grundprinzip auf vernünftige und ethisch überzeugende Weise einzuschränken. Politische Entscheidungen können nur durch rationale Argumente und empirische Evidenzen fundiert werden. Weltanschauliche Gesichtspunkte dürfen keine Rolle spielen - etwa, dass Enhancement schon allein deshalb moralisch schlecht wäre, nur weil es "künstlich" ist. Oder dass das Ziel, die menschliche Natur zu verbessern, unethisch sei – als ob unsere geistige Begrenztheit ein Geschenk darstellte, das wir sozusagen von Gott erhalten haben und an dem wir nichts ändern dürfen. Selbsterkenntnis und die Optimierung der eigenen geistigen Fähigkeiten sind klassische philosophische Ideale, an ihnen ist per se nichts, was moralisch verwerflich wäre.

Wir sollten uns eine eher nüchterne Perspektive auf das Problem zu eigen machen und den Preis so gering wie möglich halten, den wir durch Tod, Sucht und andere psychosoziale Folgekosten zahlen müssen. Es geht jedoch nicht nur darum, wie wir uns selbst schützen sollen. Wir müssen auch den verborgenen Nutzen, den psychoaktive Substanzen für unsere Kultur bereithalten, so genau wie möglich feststellen, denn es kann durchaus im Interesse der Allgemeinheit liegen, wenn man auf diese Weise die Konzentration und geistige Leistungsfähigkeit anheben könnte, wie beispielsweise bei Notärzten, Piloten. Die naturalistische Wende im Menschenbild und die langsam zunehmende technische Kontrollierbarkeit geistiger Eigenschaft durch die moderne Neurotechnologie zwingt uns deshalb zu einer normativen Diskussion. Wir brauchen gute Philosophie und eine kritische Neuroethik.

Cognitive Enhancement einfach nur als neue Technologie zu sehen und in eine kapitalistische Verwertungslogik einzubetten, würde in den ultraschnellen Wettbewerbsgesellschaften des 21. Jahrhunderts mit Sicherheit zu vielen unerwünschten Folgen führen. Wir müssen uns deshalb fragen: Warum genau wollen und sollten wir unseren eigenen Geist überhaupt optimieren?

Hier ist eine Frage, die ich als Philosoph besonders spannend finde: Was würden wir eigentlich tun, wenn "moral enhancement" zu einer pharmakologischen Handlungsmöglichkeit würde, also die Verbesserung der eigenen ethischen Einsichtsfähigkeit und des moralischen Verhaltens, beispielsweise durch neue Medikamente, die nachweislich dazu führen, dass die Menschen sich prosozialer und altruistischer verhalten? Hielten wir es dann aus ethischen Gründen für geboten, das moralische Verhalten jedes Einzelnen zu optimieren?

Thomas Metzinger, Jahrgang 1958, studierte Philosophie, Ethnologie und Theologie. Philosoph, Prof. für theoretische Philosophie an der Universität Mainz. Hauptarbeitsgebiete sind Philosophie des Geistes, die Wissenschaftstheorie der Neurowissenschaften und die Neuroethik.