Geburtsstunde der Gentechnik

Von Martin Winkelheide · 23.11.2009
Am 23. November 1969 gab ein US-amerikanisches Forscherteam bekannt, ihm sei erstmals die Isolierung eines einzelnen Gens gelungen. Gleichzeitig warnten die Wissenschaftler vor dem gefährlichen Potenzial der Genmanipulation.
An der renommierten Harvard University in Boston experimentierte 1969 ein junger Biologe mit Darmbakterien.

"Meine Laborgruppe entwickelte eine Technik, mit der sich ein Gen des Bakteriums Escherichia coli aufreinigen ließ. Wir waren die Ersten, die ein Gen trennen konnten von allen anderen Genen, die es auf den Chromosomen umgeben."

Die Wissenschaft hatte jetzt Zugang zu einzelnen Erbanlagen. Jon Beckwith wusste: Sein neues Verfahren würde es einfacher machen, die Funktion von Genen zu erforschen. Im Prinzip müsste sich jedes Gen so isolieren lassen.

"Plötzlich schien es möglich, Gene aus anderen Organismen, auch von Menschen, zu gewinnen."

… und anderen Organismen einzusetzen. Damit schien das Konzept der Gentherapie, mit Genen zu heilen, prinzipiell realisierbar. Als Ersatz für defekte Gene könnten neue, intakte Gene in Zellen eingeschleust werden.

Aber was, so fragte sich Beckwith, wenn diese Technik benutzt würde, um neue Gene in Eizellen oder Spermien einzuschleusen und so Menschen mit neuen Eigenschaften zu schaffen?

Als am 23. November 1969 die britische Fachzeitschrift "Nature" die Forschungsarbeit veröffentlichte, setzte Jon Beckwith gemeinsam mit seinen Co-Autoren Jim Shapiro und Larry Eron eine Pressekonferenz an. Dort sprachen die Wissenschaftler auch über ihre Sorge, die neu entwickelte Technik könnte missbraucht werden. Das Medienecho war groß - und fiel zwiespältig aus:

"Boston Globe" Der Schlüssel der Vererbung zum ersten Mal isoliert

"New York Times" Spiel mit dem biologischen Feuer

"The Times" Neue Hoffnung der Menschheit im Kampf gegen Krankheiten

"Los Angeles Times" Wissenschaftler isolieren ein Bakterien-Gen mit Hilfe von Viren: Furcht vor dem Menschen aus der Petrischale.

Auch Forscherkollegen fühlten sich provoziert, schreibt Jon Beckwith rückblickend.

"Wir würden die Menschen unnötig verunsichern, sagten sie. Andere fürchteten, über mögliche negative Auswirkungen von Wissenschaft zu reden, könnte eine Kürzung der Forschungsförderung nach sich ziehen."

Das von Beckwith entwickelte Verfahren ist im Laufe der Jahre perfektioniert worden - und wird heute im industriellen Maßstab eingesetzt. So werden genetisch veränderte Bakterien genutzt, um Enzyme herzustellen für Waschmittel oder Wirkstoffe für Medikamente.

Mäusen, Ratten oder Schweinen kann heute jedes beliebige menschliche Gen eingesetzt werden. Hier stellt sich die Frage, ob es ethisch zulässig ist, Lebewesen so zu manipulieren, auch wenn es dem Zweck dient, menschliche Krankheiten zu erforschen.

Die Gentherapie hingegen ist auch 40 Jahre später kaum über das experimentelle Stadium hinausgelangt. Und die Befürchtung, der Mensch könnte Schritt für Schritt genetisch "verbessert" werden, hat sich bis heute nicht bewahrheitet - vielleicht auch deshalb nicht, weil Jon Beckwith frühzeitig auf mögliche Gefahren der Gentechnik hingewiesen hat.

Was Beckwith 1969 noch nicht sehen konnte, war, wie stark sich die genetische Forschung verändern würde.

"Als ich mit der Biologie angefangen habe, da kannte jeder jeden. Heute ist das anders. Ohne Roboter und Computer läuft heute nichts mehr. Es ist ein neuer Wirtschaftszweig entstanden und die Forschung ist extrem teuer geworden."

Die Biologie wandelt sich von einer Laborwissenschaft zu einer Informationswissenschaft. Der erste Schritt dorthin war nach Ansicht Beckwiths die Entzifferung des menschlichen Erbgutes, das im Jahr 2002 abgeschlossene Human Genom Projekt.

"Für mich ist das Human Genom Projekt das erste wirkliche Megaprojekt der modernen Biologie. Es hat alles verändert. Es gibt inzwischen über 400 Bakterienarten, deren Erbgut vollständig entziffert ist. Nur stehe ich ziemlich allein da. Denn es gibt immer weniger Leute, die diese Daten wirklich nutzen können. Und immer neue Megaprojekte liefern immer mehr Megainformation."

Da es immer einfacher wird, genetische Daten zu sammeln, wächst auch das Potenzial, diese sensiblen Daten zu missbrauchen. Seit dem Bericht von der ersten Isolation eines Gens am 23. November 1969 ist auch die Verantwortung der Wissenschaftler gewachsen, öffentlich Rechenschaft abzulegen über die möglichen gesellschaftlichen Folgen ihrer Forschung.