Gaza-Streifen

"450.000 Menschen ohne Zugang zum Wassernetz"

Im Hintergrunde eines öden und leeren Platzes sieht man die Ruinen zerstörter Häuser.
Die Ruinen zerstörter Häuser im Gazastreifen. © Torsten Teichmann
Uta Filz im Gespräch mit André Hatting · 11.10.2014
Uta Filz vom UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge UNWRA dringt auf schnelle Hilfe für den zerstörten Gazastreifen: Der Wiederaufbau müsse vor dem Winter beginnen. Die zerstörte Infrastruktur und die israelische Blockade-Politik lasse die Menschen verzweifeln.
Das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge UNWRA dringt darauf, dass die Internationale Gemeinschaft sowie die Bundesregierung die neue palästinensische Einheitsregierung unterstützen. Gefordert sei eine politische Lösung für die palästinensische Exklave am Mittelmeer, die Menschen bräuchten nicht nur wieder ein Dach über dem Kopf, sagt UNWRA-Mitarbeiterin Uta Filz.
André Hatting: Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen, das hat Albert Camus in seinem berühmten Essay "Der Mythos von Sisyphos" einmal behauptet. Ob die Geberländer auch glücklich sind, wenn sie morgen auf der Konferenz in Kairo wieder Milliarden für den Wiederaufbau des Gazastreifens stellen sollen, das sei einmal dahingestellt. Ein bisschen wie Sisyphos werden sie sich dabei ganz sicher wieder fühlen, denn zum dritten Mal innerhalb von sechs Jahren hat ein Krieg zwischen Israel und extremistischen Palästinensergruppen Infrastruktur und Wohngebäude schwer geschädigt. Auch das Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge der Vereinten Nationen – abgekürzt: UNRWA – nimmt an der Geberkonferenz teil. Seit anderthalb Jahren arbeitet Uta Filz in Gaza für das UNRWA. Sie war also auch während des jüngsten Gazakrieges in diesem Sommer vor Ort. Wir erreichen sie in Gaza-Stadt, guten Morgen, Frau Filz!
Uta Filz: Guten Morgen!
Hatting: 1,2 Milliarden Euro wollen Sie bei der Konferenz einwerben, das ist die höchste jemals geforderte Summe in der 64-jährigen Geschichte des UNRWA. Wofür genau wird das Geld eingesetzt?
Filz: Was uns besonders am Herzen liegt und was besonders dringlich ist, ist der Wiederaufbau von Häusern. Wir rechnen damit, dass ungefähr 80.000 Häuser von palästinensischen Flüchtlingen in einem gewissen Grade zerstört sind oder vielleicht 20.000 davon unbewohnbar sind. Und für diesen Wiederaufbau ist UNRWA zuständig. Im Moment hat UNRWA 50.000 Menschen in 18 Schulen untergebracht, über den Krieg waren es insgesamt 300.000. Und da jetzt bald der Winter kommt, ist natürlich Wiederaufbau ganz besonders wichtig.
Hatting: Wie sieht es mit der Infrastruktur aus? Für die sind Sie jetzt nicht direkt zuständig, aber ich kann mir vorstellen, dass die auch enorm gelitten hat?
Die Öffentliche Infrastruktur ist völlig zerstört
Filz: Ja, genau, die Infrastruktur, das war schon im Prinzip alles vor dem 50-Tage-Krieg sehr prekär. Zum Beispiel wurde im Krieg das einzige Elektrizitätswerk in Gaza beschädigt und ist nicht funktionsfähig. Das heißt, dass wir jetzt 18 Stunden Stromausfall am Tag haben, vor dem Krieg waren es 12 Stunden. Zum Wasser: Die gesamte Wasserinfrastruktur wurde im Krieg beschädigt, etwa 450.000 Menschen von der Gesamtbevölkerung von 1,8 Millionen haben keinen Zugang zum Wassernetzwerk, das ist ein Viertel der Bevölkerung. Wenn man Wasser hat, ist das Wasser nicht trinkbar. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass der Gazastreifen im Jahr 2020 – das ist in vier Jahren – nicht mehr bewohnbar sein wird, ganz einfach, weil es kein Wasser mehr gibt.
Hatting: Nichts geht in Gaza ohne Israel. Der Nachbar hat den Küstenstreifen isoliert. Welche Rolle spielt das für den Wiederaufbau?
Filz: Die israelische Blockade seit 2007 bedeutet, dass der Gazastreifen zu Luft, zu Land und zu Wasser abgeriegelt ist. Viele denken bei der Blockade zuerst daran, dass keine Güter reinkommen. Viel wichtiger ist aber, dass nichts rauskommt, dass im Prinzip die Bevölkerung abhängig ist von internationaler Hilfe.
Hatting: Wenn Sie sagen, viel wichtiger ist, dass nichts rauskommt: Aber ist nicht jetzt gerade, wenn man Häuser aufbauen will, auch wichtig, dass etwas reinkommt, also Zement zum Beispiel?
Blockadepolitik verhindert Export
Filz: Genau. Konsumgüter kommen rein, aber es kommt kein Baumaterial rein. Genauer gesagt, es gibt kein Baumaterial hier im Gazastreifen. Es gibt die Möglichkeit für die UN, Baumaterial zu importieren. Was uns auch sehr am Herzen liegt, sind die Exporte. Denn Israel und das Westjordanland waren die Hauptabsatzmärkte des Gazastreifens.
Hatting: Und wenn also jetzt nichts rauskommt aus dem Land, was bedeutet das für den wirtschaftlichen Aufbau des Gazastreifens?
Filz: Wenn man im Prinzip über den Wiederaufbau des Gazastreifens redet, denkt man natürlich, wir sind nach dem Krieg und es werden Häuser wieder gebaut, es werden Schulen gebaut, es werden Kliniken gebaut. Aber der Mensch braucht ja mehr als ein Dach über dem Kopf. Die Mehrheit der Bevölkerung ist jung, die Hälfte der Bevölkerung ist unter 18 Jahre, die Bevölkerung ist extrem gut ausgebildet. Aber es gibt keine Jobs. Und anders als jetzt vielleicht in Griechenland oder in Spanien, wo man auch eine sehr hohe Arbeitslosenquote hat, kann man ja aus Gaza nicht raus, denn es gibt die Blockade um Gaza.
Hatting: Wie sieht das eigentlich mit den politischen Bedingungen eines Wiederaufbaus in Gaza aus? Da ist es ja so, dass immer noch die Hamas das Sagen hat, und die hat ihre Sicherheitskräfte immer noch dort aktiv. Die Einheitsregierung in Ramallah scheint offenbar überhaupt nicht zu regieren im Gazastreifen. Was bedeutet das für den Wiederaufbau?
Neue palästinensische Einheitsregierung stärken
Filz: Wir hoffen sehr, dass die internationale Gemeinschaft und die Vereinten Nationen die neue Regierung, die seit dem 2. Juni im Amt ist, stärken kann. Wir brauchen diese Regierung. Diese Regierung steht vor unglaublich schweren Problemen, zum Beispiel nicht nur dass im Prinzip schon alles prekär war vor dem Krieg, jetzt ist es noch viel schlimmer, es gibt die große Frage der Löhne. Unter der Hamas wird im Prinzip der gesamte Sicherheitsapparat ausgetauscht. Diese Polizisten zum Beispiel bekommen seit über einem Jahr nur noch wenig Lohn oder seit Anfang des Jahres überhaupt kein Gehalt mehr, kommen aber noch zur Arbeit. Das alles muss angegangen werden.
Hatting: Viele der Geber morgen in Kairo haben jetzt ihre Spendenbereitschaft an ganz konkrete Bedingungen geknüpft, sie wollen verhindern, dass wiederaufgebaut wird und dann wird wieder was zerstört. Halten Sie das für richtig, das an Bedingungen zu knüpfen, oder sagen Sie, jetzt gerade angesichts des Winters, der droht, muss einfach so schnell wie möglich Geld fließen?
Filz: Beides, ehrlich gesagt. An Bedingungen knüpfen, das ist richtig. Wie Sie schon sagten, wir haben den dritten Krieg innerhalb der letzten sechs Jahre, das war der schlimmste. Es kann nicht weiter so gehen, dass wir im Prinzip aufbauen und es wird wieder zerstört. Es muss eine politische Lösung geben.
Hatting: Bundesaußenminister Steinmeier hat seine Teilnahme abgesagt. Wünschen Sie sich mehr Engagement der Deutschen?
Filz: Wir sind sehr auf Deutschland angewiesen, finanziell. Deutschland gibt uns sehr viel Geld für die humanitäre Hilfe und auch für den Bau von Schulen. Und für uns, für das Hilfswerk, wir bekommen ausreichend Unterstützung. Aber natürlich würden wir uns wünschen, wie von allen anderen Ländern auch, die politische Unterstützung für die Kairo-Konferenz und auch für die neue Regierung.
Hatting: Vor wenigen Wochen haben zwei Palästinenser über ein Unglück von hunderten Bootsflüchtlingen im Mittelmeer berichtet. Was bedeutet das, wenn jetzt auch die im Gazastreifen eingeschlossenen Palästinenser fliehen? Ist das eine neue Dimension?
Neue Dimension der Hoffnungslosigkeit
Filz: In der Tat ist es eine neue Dimension. Und auch die Flucht aus Gaza, das ist natürlich besonders tragisch, die Menschen haben gerade den Krieg überlebt und jetzt sind sie auf so tragische Weise ums Leben gekommen. Um aus Gaza zu fliehen kann man sich nicht einfach in ein Boot setzen und rausfahren, da wird man mit aller Wahrscheinlichkeit entweder festgenommen oder gleich erschossen. Im Prinzip müssen die Menschen erst über die Tunnel oder über den Grenzübergang mit Ägypten Rafah raus aus Gaza. Und in der Tat haben wir jetzt schon häufiger gehört, gerade von den jungen Ausgebildeten, dass sie sagen, wir können nicht mehr, wir wollen eine bessere Zukunft für unsere Familien, wir haben keine Jobs, wir haben keine Hoffnung mehr hier.
Hatting: Morgen beginnt in Kairo die erste internationale Geberkonferenz für den Gazastreifen nach dem letzten Krieg. Mit dabei auch das Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge der Vereinten Nationen, abgekürzt: UNRWA. Ich habe mit Uta Filz von UNRWA über die Probleme des Wiederaufbaus gesprochen, vielen Dank für das Gespräch und alles Gute nach Gaza!
Filz: Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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