Ganten fordert Abschaffung der Stichtagsregelung im Stammzellengesetz

Moderation: Ulrich Ziegler · 21.07.2007
Der Vorstandsvorsitzende der Charité Universitätsmedizin Berlin, Detlev Ganten, hat sich für die Abschaffung der Stichtagsregelung im Stammzellengesetz ausgesprochen. Er halte es für nicht machbar und nicht begründbar, dass deutsche Forscher mit alten Stammzellen arbeiten müssten, die schlechter seien als das, was die Wissenschaft liefern könne, sagte Ganten.
Deutschlandradio Kultur: Zukunftsgestaltung erfordert den Mut zum Ja-Sagen, aber auch zum Nein-Sagen. Nehmen wir mal das Thema Stammzellenforschung. Wo müssen wir den Mut haben, nein zu sagen?

Detlev Ganten: Stammzellen sind ja die Zellen, aus denen der gesamte Mensch dann entsteht. Aus einer Zelle entsteht der gesamte Mensch. Es besteht natürlich die Möglichkeit – auch darüber wird diskutiert – diese Stammzelle genetisch zu manipulieren, das heißt, im Labor zu verändern und daraus so etwas wie neue Eigenschaften für den Menschen zu entwickeln, Manipulation im schlimmsten Sinne des Wortes, mit der Hand in die Entwicklung des Menschen einzugreifen. Das sind Dinge, die aus meiner Sicht verboten gehören. Ich würde da eine ganz klare Grenze ziehen, erstens aus ethischen Gesichtspunkten, zweitens aber auch, weil wissenschaftlich überhaupt nicht vorhersagbar ist, was daraus entsteht.

Deutschlandradio Kultur: Aber wozu sollten wir den Mut haben, ja zu sagen?

Detlev Ganten: Wir sollen den Mut haben, zunächst mal alles wissen zu wollen, das was ethisch nur zugänglich ist. Nichtwissen ist keine Alternative. Und das ist schon mutig genug. Kant hat gesagt: "Sapere aude – Wage zu Wissen". Das sagt sich einfach dahin, aber dieser Wissensdrang ist etwas so grundsätzlich Menschliches, da müssen wir den Mut haben, ja – ich sage – "grenzenlos zu denken", nicht grenzenlos zu handeln, Gott sein Dank haben Sie die erste Frage als erste gestellt.

Deutschlandradio Kultur: Gut, dann hat sich ja jetzt der Nationale Ethikrat für eine Lockerung des strengen Stammzellengesetzes ausgesprochen. Das könnte ja in die Richtung gehen, mehr Mut zu haben. Jetzt gibt es eine Diskussion, die damit ausgelöst wurde. Beispielsweise sagt die Initiative "Christdemokraten für das Leben", es sei eine "ethische Bankrotterklärung". Was halten Sie dagegen?

Detlev Ganten: Stammzellforschung als ethische Bankrotterklärung halte ich für eine sehr mutige Aussage. Stammzellforschung, so wie ich es eingangs gesagt hatte, bedeutet nichts anderes, als die Stammzellen, die ohnehin zur Verfügung stehen, einer wissenschaftlichen Analyse zu unterwerfen und zu verstehen, wie aus einer Zelle, der Zygote, nachdem Samen- und Eizelle sich verbunden haben, der Mensch entsteht. Was kann es an wichtiger wissenschaftlicher Fragestellung in der Humanmedizin, in der Biologie überhaupt geben? Das kann nicht Bankrotterklärung sein. Bankrotterklärung wäre genau das Gegenteil, dieses nicht wissen zu wollen. Ich würde dem entgegenhalten: Das wäre mittelalterlich.

Deutschlandradio Kultur: Da müssten wir differenzieren. Es gibt die Beobachtung der Zellentwicklung am Beispiel der Zellen in einem ausgereiften Körper eines erwachsenen Menschen, wir nennen das adulte Zellen. Der Streitpunkt geht aber um die embryonalen Zellen, dass wir Zellen verwenden, die in einem sehr frühen Stadium entstanden sind, noch viele Fähigkeiten haben, aber wir verwenden sie, um sie zu töten, um werdendes Leben in dieser Richtung zu unterbrechen.
Und da sagt die Deutsche Bischofskonferenz: Wir dürfen den Lebensschutz nicht hinter dem Forschungsinteresse hintan stellen.

Detlev Ganten: Wir diskutieren über solche Zellen, die entstehen bei der Invitrofertilisation, also, wenn ein Ehepaar Kinderwunsch hat und im Reagenzglas die Samenzelle und die Eizelle zusammengebracht werden, die Zygote entsteht. Dabei entstehen mehrere Zygoten. Einige wenige werden in die Gebärmutter eingepflanzt. Die anderen werden nicht erhalten. Das heißt, diese Zygoten werden nicht weiter verwendet. Sie werden, wenn man so will, getötet. Das ist der normale Vorgang, wenn man überhaupt diese künstliche Befruchtung akzeptieren will. Die ist aber weitgehend akzeptiert, auch religiös nicht wirklich bestritten. Dabei entstehen diese Zellen. Will man diese vernichten oder will man diese Zellen der Wissenschaft zugänglich machen, um überhaupt auch diese Arbeit der Invitrofertilisation, der künstlichen Befruchtung zu ermöglichen. Denn das ist ja nicht von allein entstanden. Das ist im Ausland entstanden, wird in Deutschland jetzt praktiziert. In Deutschland entstehen auch diese Zellen, und zwar ganz legal und auch gesellschaftlich und von allen Kirchen, die ich kenne, akzeptiert. Warum sollen diese Zellen dann vernichtet werden und nicht für wissenschaftliche Untersuchung zur Verfügung stehen? Das leuchtet mir nicht ein. Ich bin dafür, dass diese Zellen im Sinne einer Humanität der Forschung weiter zur Verfügung stehen.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt, diese Stichtagsregelung zum 1. Januar 2002 ist Ihrer Meinung nach überfällig, man braucht sie nicht?

Detlev Ganten: Die Stichtagsregelung besagt ja, dass Zellen, die im Ausland hergestellt wurden – wir stellen ja solche Zellen nicht her, wir forschen auch nicht an diesen Zellen, in Deutschland ist diese Forschung verboten, um das ganz klar zu sagen, nach dem Embryonenschutzgesetz. Das ist ein anderes Gesetz. Solche Zellen werden aber im Ausland hergestellt. Und wir dürfen diese Zellen, die vor einem Jahr hergestellt wurden, nicht nach Deutschland importieren, sondern nur solche Zellen, die vor dem 01.01.2002 hergestellt wurden. Das ist eine absurde Situation. Die können wir gar nicht aufrecht erhalten. Dafür gibt es keine moralische Begründung. Ich glaube, dafür gibt es keine politische Begründung und eine wissenschaftliche schon gar nicht.

Deutschlandradio Kultur: Halten wir fest: Sie sind nicht dafür, dass man für Forschungszwecke eine künstliche Befruchtung durchführt?

Detlev Ganten: Nein, um Gottes Willen.

Deutschlandradio Kultur: Sie sagen, man nimmt quasi das Nebenprodukt der künstlichen Befruchtung und, statt es sterben zu lassen oder vor sich hin wertlos werden zu lassen, soll man es für Forschungszwecke nutzen.

Detlev Ganten: Genau. Die überzähligen Zellen, die sonst vernichtet würden, die werden nicht in die Gebärmutter implantiert, weil mehr produziert werden, auch werden müssen, um ausreichend vitale Zellen zu haben, die man implantiert, diese Zellen werden in Deutschland vernichtet. In anderen Ländern werden daraus embryonale Stammzelllinien hergestellt. Diese dürfen wir nur importieren, wenn sie vor dem 01.01.2002 hergestellt wurden – überhaupt nicht einsichtig.

Deutschlandradio Kultur: Warum machen wir uns selbst überhaupt das Stichtagsproblem? Warum stellen wir nicht selbst eine heimische nationale Stammzellenlinie her?

Detlev Ganten: Ich bin der Meinung, wir sollten in Deutschland solche Stammzelllinien auch herstellen können, unter Bedingungen, über die wir dann gerne sprechen können. Aber diese Stichtagsregelung ist damals als Kompromiss gefunden worden, weil im Bundestag eine Mehrheit dafür war, diese Forschung vom Grundsatz her zuzulassen, weil sie medizinisch auch für neue Behandlungsformen so wichtig ist, aber es sollte vermieden werden, dass für die Forschung in Deutschland im Ausland Stammzellen hergestellt werden, dass wir also aus Deutschland einen Anreiz für die Herstellung von Stammzellen im Ausland bieten. Daher diese Stichtagsregelung. Das heißt, nur das, was vor diesem Gesetz schon hergestellt war, dürfen wir importieren, aber nicht mehr nach diesem Gesetz, weil sonst möglicherweise in Belgien oder in Schweden oder in Israel Zellen für uns hergestellt würden. Das ist der Sinn dieser Stichtagsregelung. Die ist aber inzwischen jetzt fünf Jahre alt. Und die Stammzellen, die wir jetzt importieren könnten, entsprechen in den Kriterien, in den wissenschaftlichen Möglichkeiten überhaupt nicht mehr dem, was ein Forscher heute braucht, um moderne Forschung auf diesem Weg machen zu können. darum gibt es de facto eine humane Stammzellforschung, die ernst zu nehmen ist, in Deutschland nicht mehr.

Deutschlandradio Kultur: Was hat sich denn bei den Stammzellen verändert, wenn Sie sagen, sie entsprechen nicht mehr den neuesten Anforderungen?

Detlev Ganten: Ein ganz wichtiger Punkt ist: Diese Stammzellen werden im Reagenzglas am Leben erhalten. Die wachsen weiter und teilen sich weiter. Das ist der Vorteil dieser Stammzellen. Und die brauchen eine Nährlösung. Diese Nährlösung war früher bei den Stammzellen vor 2002 von Mäusen, weil da die größte Erfahrung war und da hatte man die Erfahrung, da wachsen sie gut und teilen sich gut. Aber wenn Sie die für menschliche Behandlungsformen einsetzen wollen, dann ist es nicht günstig, Mäuseeiweiße in einem menschlichen Behandlungssystem zu haben. Heute gibt es Stammzellen, die auf menschlichen Eiweißen wachsen. Das ist natürlich ein großer Vorteil. Das ist einer der Vorteile, aber es gibt eine Reihe von anderen.

Deutschlandradio Kultur: Der Ethikrat ist ja nicht einheitlicher Meinung. Der hat verschiedene Positionen vorgestellt. Eine Position ist, wir wollen nichts ändern, die nächste, wir wollen den Stichtag weghaben und eine Einzelfallprüfung machen, die weitere ist, wir wollen uns einen neuen Stichtag besorgen. Und dann wurde angedacht, vielleicht eher als Gedankenbeispiel, diese Idee: Warum nicht eine nationale Stammzelllinie? Sind sie wirklich zerstritten oder haben sie doch eine gemeinsame ethische Grundlage gefunden im Laufe der Jahre?

Detlev Ganten: Dem Ethikrat ist ja mal vorgeworfen worden, er sei vom Bundeskanzler – damals noch Schröder – berufen worden, um gewissermaßen die "Kanzlerlinie" durchzusetzen. Dass der Ethikrat in der Breite der Meinungen fast das gesellschaftliche Spektrum widerspiegelt -wenn Sie eine Umfrage machen würden, haben Sie wahrscheinlich etwa gleiche Größenordnungen von Zustimmung und Ablehnung- zeigt einfach, dass das 24, 25 völlig unabhängige Leute sind, die unabhängig diskutieren. Es ist gar nicht zu erwarten, dass in einer solchen Gruppe eine einheitliche Meinung gefunden wird. Es könnte erwartet werden, dass wir uns auf einen Minimalkonsens irgendwo einigen werden – da sind wir aller einer Meinung. Diesen Minimalkonsens haben wir in der Tat nicht gefunden, weil einfach sehr unterschiedliche religiöse, persönliche, wissenschaftliche Erfahrungen da sind, auch Schwerpunkte da sind. Der Konsens ist immer die gesellschaftliche Verantwortung. Der Konsens ist immer: Es wird nie eine Forschung in Deutschland geben, in einem demokratischen Staat, die gegen den gesellschaftlichen Konsens arbeiten kann. Dann würde die Demokratie nicht mehr funktionieren.

Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie Kriterien für die Zukunft festlegen könnten, wie eigentlich geforscht werden muss, damit dieser gesellschaftliche Rahmen auch stimmt, wie muss das dann aussehen?

Detlev Ganten: Ich bin der Meinung, dass das Stammzellgesetz verändert werden muss in dem Punkt, dass die Stichtagsregelung komplett fällt. Ich halte es nicht für machbar und nicht begründbar, dass wir mit alten Zellen arbeiten, die schlechter sind als das, was die Wissenschaft liefern kann. Ich bin der Meinung, dass die Strafbewehrung weg muss. Es kann doch nicht sein, dass ein Kollege von mir in Belgien mit Wissenschaftlern arbeitet, die mindestens auf gleichem moralischen Niveau wie wir Deutsche sind, oder in Schweden oder in Israel, und er kommt über die Grenze zurück und läuft Gefahr, dass er verhaftet wird.

Deutschlandradio Kultur: Was noch nie stattgefunden hat.

Detlev Ganten: Was noch nicht stattgefunden hat, aber so steht es im Gesetz. Es ist strafbewehrt. Damit muss man rechnen. Darum macht auch keiner was. Dem will sich ja keiner aussetzen. Man kann sagen, gut, das wird nicht ernst genommen. Dann muss es aber auch weg. Das heißt, dies sind die wesentlichen Bedingungen.

Ich bin der Meinung und das wird ja auch empfohlen, dass wir uns insbesondere auf solche Stammzellen in der Forschung in Deutschland beschränken sollten, die in so genannten nationalen oder internationalen Stammzellbanken festgelegt sind. Das sind Standardstammzellen, an denen man sehr gut forschen kann, die immer aktualisiert werden, die auch gewissen Qualitätskriterien entsprechen und die nicht kommerziell vermarktet werden, sondern die der Wissenschaft gewissermaßen zum Selbstkostenpreis zur Verfügung gestellt werden. Wenn ein besonders wichtiges Vorhaben beantragt wird, dann sollte eine Kommission im Robert-Koch-Institut, die ja dafür vorgesehen ist, sagen können, das ist ein so wichtiges Thema, das ist ein so wichtiges Experiment, das sind so wichtige Aussichten für die Behandlung von neuen Krankheiten, dem stimmen wir zu.

Und dann kann man noch bestimmte Kontrollen festlegen und sagen, ihr müsst nach einem Jahr berichten oder das dürft ihr nur in einem Labor machen, das dafür zertifiziert ist. Es dürfen nur bestimmte Mitarbeiter daran mitarbeiten. Es muss eine interdisziplinäre ethische Kontrolle da sein. Die Ergebnisse müssen beobachtet werden, müssen publiziert werden. Das heißt, man kann – ohne die Forschung einzuschränken – eine weitgehende Sicherheit liefern, dass hier die Dinge nicht außer Rand und Band geraten und Dinge gemacht werden, die gesellschaftlich nicht gewollt sind.

Deutschlandradio Kultur: Diese Projektprüfung ist doch eigentlich obligatorisch. Wer in Deutschland Geld, Forschungsmittel haben will, wer europäische Forschungsmittel haben will, muss sein Projekt generell zur Prüfung einreichen. Wer an embryonale Stammzellen ran will, muss hier in Deutschland beim Robert-Koch-Institut eine Prüfung bestehen. Wäre nicht diese Einzelfallprüfung erstens generell der Schlüssel für ein standardisiertes europäisches Verfahren und zweitens auch der Schlüssel dafür, dass man nicht mehr über die Herkunft der Stammzellen in dem Sinne nachdenken muss, machen wir sie selber oder holen wir sie aus dem Ausland? Es wird auf jeden Fall nach Kriterien geprüft, die allgemein akzeptiert sind.

Detlev Ganten: Ich stimme Ihnen voll zu. Genau das wäre der Weg, den man gehen müsste. Es gibt überhaupt kein Experiment in einem öffentlichen Labor, aber auch in privaten Labors, wir haben in Deutschland ja keine Trennung zwischen privaten und öffentlichen Labors wie z.B. in USA, die arbeiten alle nach den gleichen Kriterien, die arbeiten alle auf der Basis von Anträgen und auf einer Finanzierung dieser Anträge, das nicht einer wissenschaftlichen und auch ethischen Kontrolle unterliegt.

Deutschlandradio Kultur: Wenn wir über Stammzellforschung reden, reden wir dann hauptsächlich über Grundlagenforschung? Oder geht es auch und vor allen Dingen um angewandte Forschung?

Detlev Ganten: Wir reden zunächst über Grundlagenforschung. Zunächst ist Stammzellforschung wirklich ein Grundlagenforschungsprojekt. Wir wollen verstehen, wie sich aus dieser ersten Zelle, der Zygote, das Gewebe, die etwa 200 verschiedenen Zellarten des Körpers – Gehirnzelle, Hautzelle, Leberzelle, Nierenzelle usw. – entwickeln. Wenn wir diese so genannte Differenzierung in die verschiedenen Zellarten verstehen, dann können wir dieses natürlich auch lenken und fragen, wenn wir beispielsweise eine Zelle zur Behandlung von Blutzucker brauchen: Wie können wir eine Stammzelle sich so entwickeln lassen, dass sich das blutzuckerregulierende Hormon Insulin in dieser Zelle besonders entwickelt und produziert wird, so dass man damit Blutzucker behandeln könnte? Das heißt, die Grundlagenforschung hat natürlich in der Medizin immer das Ziel, entweder die Diagnose oder aber auch die Behandlung zu verbessern. Aber das ist ein langer Weg.

Deutschlandradio Kultur: Also würden Sie sagen, wenn wir mit Stammzellen forschen und heilen wollen, dass dies ein qualitativer Sprung ist im Vergleich zur Forschung mit adulten Stammzellen?

Detlev Ganten: Ganz eindeutig. Die adulten Stammzellen sind ja Zellen, die schon im Gewebe sind. In der Leber haben wir Stammzellen, die aber schon weiter differenziert sind. Das sind schon halbe Leberzellen. Diese Stammzellen haben wahrscheinlich die Aufgabe, da, wo Lebergewebe abgebaut wird oder Leberzellen absterben, den natürlich Nachschub zu liefern. Die sind aber schon viel weiter differenziert und wir können aus einer Leberzelle nicht mehr eine Bauchspeicheldrüsenzelle machen.

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie können trotzdem damit therapeutische Erfolge erzielen. Das haben Sie auch getan. Sie brauchen nicht unbedingt die Stammzelle.

Detlev Ganten: Ja, es wäre wunderbar, wenn wir in der Stammzellforschung so weit vorankommen und das Verständnis dieser ganzen Kette der Entwicklung so gut verstehen, dass wir die im Körper vorhandenen Stammzellen so stimulieren können, z. B. durch herkömmliche Medikamente, Chemikalien. Dann brauchen wir gar nicht mehr die Stammzelltransplantation aus dem Reagenzglas in den kranken Menschen, sondern wir befördern die Regenerationsfähigkeit der adulten Stammzelle im Gewebe selber. Die Meinung ist nur, und die ist – denke ich – sehr berechtigt, dieses weite Verständnis werden wir nur schaffen, wenn wir das ganze System der Stammzelle kennen lernen und nicht irgendwo in der Mitte anfangen zu forschen, sondern die gesamte Differenzierung. Ich denke, das ist dann auch die eigentliche Begründung für die Stammzellforschung.

Deutschlandradio Kultur: Noch mal nachgefragt: Die embryonalen Stammzellen, die so umstritten sind, wenn sie für die Forschung verwendet werden, würden Sie sagen, sie sind nur der Einstieg in die Stammzellforschung, um bestimmte Probleme zu lösen? Oder brauchen wir die Embryos hinterher auch, um massenhaft Medikamente herzustellen?

Detlev Ganten: Wie die Zukunft auf wissenschaftlichem Gebiet aussieht, wissen wir nicht. Wir wissen nur, welche Methoden wir brauchen, um etwas zu entwickeln. Es ist eine absurde Idee zu meinen, wir brauchen die embryonale Stammzellforschung nicht. Das heißt, vom Tag null bis zum Tag – was weiß ich – 20 Jahre, diese Zeit der Differenzierung müssen wir nicht lernen, sondern wir gucken beim adulten, beim erwachsenen Menschen nach, was gibt es da an Stammzellen, wie können wir die Weiterentwicklung von 20 bis 80 dann weiter kontrollieren oder so. Wenn Sie das Buch des Lebens kennen lernen wollen, müssen Sie es natürlich von Anfang bis Ende lesen. Was sie nachher dann wirklich für die Anwendung brauchen, ist dann vielleicht nur ein Spruch in der Bibel, der Sie weiterbringt. Das kann dann eben auch die adulte Stammzelle sein, aber das ganze System müssen Sie kennen lernen.

Deutschlandradio Kultur: Sie sind ja nicht nur Forscher, sondern auch Vorstandsvorsitzender der Charité, immerhin des größten Klinikums Europas. In welchen Bereichen findet hier Genforschung statt, möglicherweise auch fachübergreifend?

Detlev Ganten: Genforschung gibt es in allen Bereichen. Wenn Sie Herzkreislaufforschung, mein eigenes Fachgebiet, oder Krebsforschung oder Hirnforschung machen, geht es gar nicht mehr, ohne dass Sie auf die Ursprungsinformation der biologischen Vorgänge, nämlich die Gene, zurückgreifen – bei der Diagnose und in vielen anderen Bereichen im Verständnis der Wissenschaft.

Wir haben ein großes Thema in der Charité entwickelt, auch mit Förderung – Gott sei Dank – für ein so genanntes Zentrum für regenerative Medizin, in dem wir insbesondere die Stammzellen im Bereich der Orthopädie, also der Knochenregeneration, der Knochenheilung, aber auch der Immunologie und Blutkrankheiten erforschen, aber leider zur Zeit in Deutschland nur mit adulten Stammzellen und in den bestehenden Systemen. Das heißt, wie können wir die Stammzellen im Körper selber anregen, um Heilungsprozesse zu befördern, z. B. das Zusammenwachsen der Knochenenden bei gebrochenen Knochen? Das begrenzt uns natürlich auch sehr in den Kooperationen und in den Möglichkeiten, neue Materialen einzusetzen. Das ist der Grund. Wenn wir international wettbewerbsfähig sein wollen, brauchen wir auch in diesem Zentrum irgendwann mal die Forschung an embryonalen Stammzellen.

Deutschlandradio Kultur: Wir haben in Deutschland eben ein ethisches Problem mit den embryonalen Stammzellen. Wenn wir das argumentativ heilen wollen, welche Lösung würden Sie uns anbieten? Würden Sie sagen, generell ist der Eingriff ins menschliche Leben verboten, also auch der Embryo ist geschützt? Aber wie definieren wir dann weiter?

Detlev Ganten: Wir bleiben auf dem Boden des Grundgesetzes. Das wollen wir nicht ändern. "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Die Frage ist, wo beginnt die Würde des Menschen. Das ist weder vom Bundesverfassungsgericht und übrigens auch nicht von den Religionen definiert. Auch in der religiösen Definition hat sich das beständig gewandelt. Das heißt, wir brauchen diesen Grundkonsens des Grundgesetzes. Aber auf dieser Basis müssen wir auch arbeiten können und wir dürfen nicht immer neue restriktive Definitionen einführen. Wenn wir Wissenschaft betreiben wollen, werden wir nicht dran vorbeikommen, auch internationale ethische Standards wesentlich zu den unseren zu machen. Es ist unverantwortbar, den Fortschritt der Medizin, der mit dieser Forschung möglich ist, für uns in Deutschland nicht erforschen zu wollen.
Deutschlandradio Kultur: Wer bestimmt, wann absolut schützenswertes Leben beginnt? Ist das eine gesellschaftliche Diskussion – europaweit, weltweit, deutschlandweit – nur von Medizinern, Politikern, Religionen?

Detlev Ganten: Mit Sicherheit nicht nur von Fachgruppen, nicht nur von Medizinern, nicht nur von Interessengruppen. Am Schluss sind es die Parlamente, in Deutschland der Bundestag, in Europa das Europäische Parlament, das sind die Gremien, in denen solche Dinge dann auch geregelt werden müssen.

Deutschlandradio Kultur: Was meinen Sie? Wo beginnt das menschliche Leben?

Detlev Ganten: Jetzt sage ich Ihnen etwas, was Sie vielleicht enttäuscht: Das menschliche Leben beginnt aus meiner Sicht weit vor der Befruchtung. Das menschliche Leben beginnt beim liebenden Paar, und zwar bevor es den Akt der Zeugung vollzieht. Der Moment, wir gründen eine Familie, ist viel, viel wichtiger für die Kinder, als das, worüber wir diskutieren – die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle und der Zygote und der Differenzierung. Denn die Gene und die Biologie ist natürlich beim Menschen nur ein ganz kleiner Teil dessen, was den Menschen nachher ausmacht. Also, wie bedeutsam die psychische und mentale Einstellung der Mutter zum werdenden Kind ist, ist viel, viel bedeutsamer als die meisten Biologen oder Naturwissenschaftler, aber auch die allgemeine Bevölkerung akzeptieren.

Interessanterweise ist ja in verschiedenen Kulturen der Beginn des Lebens auch unterschiedlich definiert, im Judentum und Christentum im Wesentlichen nach der Geburt. Da wird getauft, da ist das Kind aufgenommen in die Gemeinschaft der Gläubigen und der Gesellschaft. Wir verlegen das jetzt auf die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. In anderen, mehr archaischen Religionen ist es so, dass nach dem Sternbild geguckt und der Geburtstag so gewählt wird, häufig vor der Geburt, manchmal nach der Geburt, wie die Sternkonstellation günstig ist, um dem Kind eine günstige Prognose geben zu können, die dann von den Sternen abhängig ist. Das heißt, da gibt es keine festen Regeln. Ich sage für mich persönlich: Für mich beginnt das Leben mit dem Zeugungsakt natürlich und dem Zusammenleben des Paares, der Gründung der Familie, aber das eigentliche Leben, das individuelle Leben ist natürlich die Geburt.

Deutschlandradio Kultur: Wir danken Ihnen ganz herzlich für das Gespräch.