Für eine digitale Einsiedelei

Von Markus Reiter · 06.09.2012
Facebook, Twitter & Co. - jeden Tag werden über die sozialen Netzwerke Abermillionen von Mitteilungen ausgetauscht - zu einem Großteil mit Menschen, denen man noch nie begegnet ist. Markus Reiter ist das zuviel. Er befürwortet die digitale Einsiedelei.
Im Jahre 250 zog sich der Legende nach der 22-jährige koptische Christ Paulus von Theben vor der Verfolgung durch die Soldaten des römischen Kaisers Decius in die ägyptische Wüste zurück. Er schlief fortan unter einer Palme, trank Wasser aus einer nahen Quelle und aß das Stückchen Brot, das ihm ein Rabe täglich brachte.

Nur einmal noch traf er in den angeblich rund 90 Jahren seines Einsiedlerlebens auf eine andere menschliche Seele: auf Antonius den Großen, der selbst ein berühmter Eremit war.
Heute befremdet eine solche Einsamkeit jene internetaffinen Menschen, die sich nicht mehr vorstellen können, ohne Facebook, Twitter, Youtube, Pinterest, Tumblr und all die anderen Netzwerke leben zu können. Die Internet-Apologeten argumentieren dabei gerne biologistisch.

Der Mensch sei, anders als Wölfe und Orang-Utans, ein soziales Wesen. Der permanente Austausch mit anderen gehöre zu seiner Grundveranlagung. Die technischen Möglichkeiten der sozialen Netzwerke im Internet erlaubten ihm nun endlich - nach Jahrtausenden in einem beschränkten Aktionsradius, dieser Veranlagung voll und ganz zu entsprechen.

Für wahr, unsere Steinzeitvorfahren lernten in ihren ganzen Leben weniger Menschen kennen, als wir heute an einem einzigen Nachmittag mittels Facebook und Twitter Bekanntschaften schließen können. Aber ist das allein schon ein Fortschritt, gar ein persönlicher Gewinn? Wohl kaum!

All diese Bekanntschaften teilen uns ihre Befindlichkeiten und ihre Gedanken zu Gott und der Welt von früh bis spät mit – und erwarten das auch von uns. Wir lesen gerade ein Buch? Dann mögen wir bitteschön sogleich verkünden, was davon zu halten ist. Wir hören gerade Musik? Dann ist es doch nur recht und billig, wenn unsere Facebook-Freunde davon erfahren und sich in den Song einklinken können. Wir sehen fern? Dann sollten auf jeden Fall alle mitbekommen, was uns zu dieser Sendung durch den Kopf geht.

"Man kann nicht nicht kommunizieren." Diesen viel zitierten Satz hat einst der Psychologe Paul Watzlawick geschrieben. Die Protagonisten der sozialen Netzwerk-Euphorie gehen einen Schritt weiter. Sie setzen voraus, dass der Mensch ständig mit anderen Menschen kommunizieren und sie mit seinen Meinungen und Befindlichkeiten unterhalten will.

Psychologen und Neurowissenschaftler wissen, dass es beim "sozialen Austausch" nicht darum geht, eine Sache inhaltlich tiefer zu durchdringen. Im Gegenteil: Die Inhalte sind zweitrangig. Es handelt sich vielmehr um ein Signal an die anderen Mitglieder der Gemeinschaft: "Ich bin da! Nimm mich wahr!". Dem entspricht die Erfahrung, dass die banalsten Mitteilungen bei Facebook die meisten Reaktionen auslösen.

Kürzlich war ich auf einem Kongress über soziale Medien. Leider hatten bei der Abschlussdiskussion die prominenten Blogger und Internetpersönlichkeiten keine Zeit, über die Fragen nachzudenken, die ihnen aus dem Publikum gestellt wurden. Stattdessen waren sie damit beschäftigt, ihre Follower und Facebook-Freunde darüber auf dem Laufenden zu halten, dass sie gerade bei einem Social-Media-Kongress auf dem Podium sitzen und Fragen beantworten sollen.

Ein bisschen Ernüchterung tut der heiß gelaufenen Social-Media-Manie gut. Man darf sich nämlich fragen, ob die Lektüre eines Romans intensiver, eine Fernsehsendung spannender, eine Diskussion erhellender wird, wenn man dabei ständig auf Sendemodus geschaltet ist, weil man sich verpflichtet sieht, anderen Menschen Mitteilung über seinen aktuellen Seelenzustand zu machen.

Eine digitale Einsiedelei ist von Zeit zu Zeit intensiver als jeder soziale Austausch. Sie erst schafft Raum für das Nachsinnen und Durchdringen. Wie das geht, machen uns die katholischen Kartäusermönche vor. Sie leben zusammen in einer klösterlichen Gemeinschaft, wechseln aber kaum ein Wort miteinander. Ihre Tage sind gefüllt mit Gebet und Kontemplation. Der Rest ist Schweigen.

Markus Reiter arbeitet als Schreibtrainer, Journalist und Publizist. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Geschichte an den Universitäten Bamberg, Edinburgh und FU Berlin. Unter anderem war er Feuilletonredakteur der FAZ und schreibt Bücher über Kultur, Sprache und Kommunikation. Mehr unter www.klardeutsch.de
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