Für die Demokratie nicht reif

Von Christoph Burgmer · 26.12.2006
Der Übergang zur parlamentarischen Demokratie in Algerien sollte 1991 mit den ersten allgemeinen Parlamentswahlen abgeschlossen werden. Doch sie waren der Ausgangspunkt zu einem jahrelangen, blutigen Bürgerkrieg.
Der Führer der Islamischen Heilsfront FIS, Ali Belhadj, ruft im Sommer 1991 zur Errichtung einer gerechten göttlichen Ordnung auf. Er untermauert seine Forderung akustisch mit explodierenden Bomben. Die Drohung des Vorsitzenden der Islamischen Heilsfront ist unmissverständlich. Gerichtet ist sie nicht nur gegen Chadli Benjedid, Oberst des allmächtigen algerischen Militärs und seit 1979 Staatspräsident des nordafrikanischen Staates. Gerichtet ist sie auch an all jene, die ein französisch-republikanisches und kein islamitisch-religiöses Herrschaftsmodel für das nordafrikanische Land fordern.

26. Dezember 1991. In Algerien finden die ersten freien, landesweiten Parlamentswahlen statt. Es ist der Höhepunkt eines schon 1988 als Folge landesweiter Jugendproteste eingeleiteten demokratischen Umbruchs. Bis dahin wird der Staat von der sozialistischen Einheitspartei, der Front de Libération National, kurz FLN, regiert. Doch der Trend, der sich in den ersten Auszählungsergebnissen abzeichnet, verheißt nichts Gutes. Wie schon bei Regionalwahlen im Jahr zuvor scheinen die Algerier sich mit überwältigender Mehrheit für die Front Islamique du Salut, die Partei der Muslimbrüder, entschieden zu haben.

Insbesondere in den Großstädten, deren Wahlergebnisse in den folgenden Tagen bekannt gegeben werden, hat sich die Mehrheit für die FIS entschieden. Die FLN, seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1962 die allein regierende Partei des amtierenden Staatspräsidenten, kann selbst in der Hauptstadt Algier nicht siegen. Zum ersten Mal in der Geschichte des nordafrikanischen Staates, ja, zum ersten Mal in der arabischen Welt überhaupt, steht die Muslimbruderschaft davor, als Ergebnis einer Parlamentswahl die Macht zu übernehmen.

"Oh ihr, die ihr glaubt, folgt nicht den Fußstapfen des Satans."

Die Zeit der "Djahiliyya", der unislamischen Herrschaft, wie die islamischen Fundamentalisten die Regierungszeit der FLN populistisch denunzieren, scheint beendet.

Doch schon am Wahltag werden Stimmen innerhalb des algerischen Militärs laut, das algerische Volk hätte "falsch gewählt". Einen Tag später fordern Parteien offen den Abbruch der Wahlen. Am 2. Januar 1992 demonstrieren 300.000 Gegner der FIS in Algier. Es gelte, skandieren sie, die Demokratie vor dem radikalen Islamismus zu retten. Während der Demonstration kommt es zu ersten gewalttätigen Auseinandersetzungen mit den Anhängern der islamischen Heilsfront. Endgültig eskaliert die Situation, als das Militär einige Tage danach die Macht ergreift. Der neu eingerichtete fünfköpfige Staatsrat bricht die Stimmenauszählung sofort ab, konfisziert die Wahlurnen und erlässt ein Verbot jeglicher politischer Betätigung in den Moscheen. Doch die Imame rufen zum Widerstand auf.

Viele Algerier, die nur aus Protest gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die akute Wohnungsnot und die Korruption die Islamisten gewählt haben, befürchten die Eskalation. Sie hoffen jetzt, dass die alte Kolonialmacht Frankreich den drohenden Bürgerkrieg abwenden werde. Doch mit Frankreich an der Spitze reagiert das politische Europa zögerlich. Die Angst geht um, dass sich im südlichen Mittelmeer ein islamistischer Staat etablieren könnte. Während man im Geheimen die algerische Militärführung unterstützt, kündigt der französische Außenminister Philippe Marchand am 15. Januar 1992 eine europäische Politik der Nichteinmischung an. Die Grenzen zur ehemaligen Kolonie werden geschlossen.

"Frankreich muss die Vorgänge aufgrund seiner historischen Beziehungen und weil mehr als 720.000 Algerier in Frankreich leben, aufmerksam verfolgen. Wenn aber jemand, nur weil er behauptet, Gegner der FIS zu sein, in Frankreich politisches Asyl beantragt, so müssen wir dies ablehnen."

Nur zwei Monate später, im März 1992, befiehlt das Militär die Auflösung der Islamischen Heilsfront. Im Gegenzug ruft die Partei der Muslimbrüder in Moscheen zum bewaffneten Kampf auf. Die Forderung ihrer im Gefängnis einsitzenden Führer Abbbas Madani und Ali Belhadj nach nationaler Versöhnung bleiben ungehört. Der Weg hin zu einer Eskalation der Gewalt ist beschritten. Keine drei Monate nach der Parlamentswahl beginnt ein bestialischer Bürgerkrieg, bei dem in den nächsten Jahren weit über 100.000 Menschen ermordet werden.