"Fühle mich persönlich mitverantwortlich"

Moderation: Michael Groth und Martin Steinhage · 23.06.2012
Über Jahre gelang es Behörden nicht, der Zwickauer Terrorzelle auf die Spur zu kommen. Die Fehler müssten vorurteilsfrei aufgeklärt werden, sagt Jörg Ziercke, der Präsident des Bundeskriminalamts. Es bedrücke ihn, dass man den Opfern nicht den nötigen Schutz habe zukommen lassen.
Deutschlandradio Kultur: Unser Gast ist Jörg Ziercke, der Präsident des Bundeskriminalamts. Mit ihm wollen wir vor allem über die Ermittlungspannen im Zusammenhang mit den Morden der Zwickauer Zelle sprechen. - Guten Tag, Herr Ziercke.

Jörg Ziercke: Schönen guten Tag.

Deutschlandradio Kultur: Herr Ziercke, seit dem vergangenen November wissen wir, das dem rechtsextremen NSU, also dem nationalsozialistischen Untergrund, für die Zeit zwischen 2000 und 2011 insgesamt 10 Morde, zwei Sprengstoffanschläge sowie 14 Banküberfälle zuzurechnen sind. Über Jahre kamen die Ermittler dem Terrortrio nicht auf die Spur.

Was überwiegt bei Ihnen persönlich mit Blick auf die Fahndungspannen bei den Verbrechen dieser Neonazis – Verärgerung oder Scham?

Jörg Ziercke:Es bedrückt mich sehr, dass wir den Opfern und ihren Angehörigen nicht den Schutz zukommen lassen konnten, den sie hätten haben müssen. Es bedrückt mich sehr und es tut mir wirklich auch leid, dass wir dieser Verantwortung, die deutsche Sicherheitsbehörden haben, nicht gerecht geworden sind.

Das heißt aber nicht, dass ich die Schuld jetzt einzelnen Organisationen zuweisen kann, sondern ich plädiere dafür, dass die Sache restlos und lückenlos aufgeklärt wird und dass man dann feststellt, ob es strukturelle Probleme gibt in der Sicherheitsarchitektur in Deutschland, vielleicht gekoppelt mit dem persönlichen Versagen Einzelner. Aber ich warne davor, alle deutschen Sicherheitsbehörden hier gleichermaßen mit einer Verantwortung zu überziehen. Dies wäre in der Sache nicht gerecht und würde auch den Opfern nicht helfen.

Deutschlandradio Kultur: Zu dieser Aufklärung sollen ja jetzt diverse Untersuchungsausschüsse beitragen. Berhard Falk, einst Ihr Kollege als Vizepräsident des BKA sagte in dieser Woche im Bundestagsuntersuchungsausschuss, die Anschläge seien "kriminalistisch stümperhaft" bearbeitet worden. Schließen Sie sich dieser Einschätzung an?

Jörg Ziercke: Nein, dieser Auffassung schließe ich mich nicht an. Ich darf Ihnen auch sagen, dass Bernhard Falk, ohne dass ich ihn dazu aufgefordert habe, mir eine Mail hat zukommen lassen, die ich auch dem Untersuchungsausschuss präsentieren werde, dass er von den Medien hier falsch interpretiert wird. Er hat nicht von "stümperhafter Ermittlungsarbeit der Polizei" gesprochen.

Er hat auch nicht von einer "schlechten Arbeit der bayerischen Kollegen" gesprochen, die übrigens mit zu den Besten in Deutschland gehören, sondern er hat die Organisationsform gemeint ab 2006, die nach seinen Vorstellungen nicht so war, wie er sich das selbst im Grunde vorgestellt hatte. Das hat er als stümperhaft bezeichnet, aber nicht die Ermittlungsarbeit der Mordkommission in Nürnberg oder bayerischen Polizei gemeint.

Deutschlandradio Kultur: Vielleicht kurz noch mal angehängt, weil Sie eben sagten "vor dem Untersuchungsausschuss": Nächste Woche werden Sie selbst vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss Rede und Antwort stehen. Sie sagten eben auch, wir wollen jetzt nicht nur danach fragen, wer hat genau was falsch gemacht, wer trägt den Schwarzen Peter?

Gleichwohl die Frage an Sie: Inwieweit muss sich Ihre Behörde, inwieweit muss sich das Bundeskriminalamt in dieser Angelegenheit Vorwürfe machen bzw. gefallen lassen?

Jörg Ziercke: Wir haben diese Sache ja sehr ausführlich bereits intern aufgearbeitet und haben uns gefragt: Hätten wir diese Informationen haben können? Hätten wir sie haben müssen sogar, diese Informationen? Hätten wir aufgrund der Zusammensetzung dieser Taten, dieser Abläufe, die wir ja kennen aufgrund der Opferherkunft, was ja jeder wusste, was auch Politiker, Journalisten wussten, was Politiker wussten. Dazu gehört ja nicht viel Fachwissen, um zu fragen, ist das Rechtsextremismus oder ist das organisierte Kriminalität. Wir haben ja beide Ermittlungsrichtungen durchaus angedacht.

Und bei der Frage Rechtsextremismus haben wir das Problem gehabt, dass es diese Verbindung zu dieser Zwickauer Terrorzelle nicht gegeben hat. Mir ist es noch mal deutlich geworden jetzt bei den Entscheidungen des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofes, der ja einige derjenigen, die als Freunde dieses Trios sehr eng über zehn Jahre an diesen Leuten dran waren, die Unterstützung geleistet haben, die immer wieder auch Kontakt gehabt haben. Diese sind mit der Begründung im Grunde durch den Bundesgerichtshof frei gelassen worden, wobei der einfache Verdacht letztlich bestehen geblieben ist, eigentlich der qualifizierte, dass auch diese wohl von den Mordtaten nichts gewusst hätten.

Und das ist genau unsere Situation gewesen. Von Mordtaten eines rechtsextremistischen terroristischen Trios haben wir nichts gewusst, nicht das Bundeskriminalamt und, soweit ich das vom Bundesamt für Verfassungsschutz weiß, auch nicht das Bundesamt für Verfassungsschutz. Wenn ich mich jetzt mit dem Schäfer-Bericht auseinandersetze, der in Thüringen und Sachsen ja die Zusammenhänge untersucht hat, insbesondere in Thüringen, zwischen dem Landeskriminalamt und dem Landesamt für Verfassungsschutz, dann werden dort ja durchaus Probleme aufgelistet in der Informationsweitergabe.

Daraus schließe ich – vorläufig jedenfalls – den Schluss: Wenn Informationen von der örtlichen Ebene einer Polizei, die ja zuständig ist, nicht an das Landes-/ Bundeskriminalamt gelangen, nicht an das Landesamt für Verfassungsschutz gelangen auf der Verfassungsschutzschiene, dann muss man sich frage: Ja, wie sollen darauf Bundesbehörden, die zentral agieren, die auf diese Information angewiesen sind, denn über ein Wissen verfügen, das man ihnen nicht zugeliefert hat.

Also, ich sehe hier massiv ein Problem in der Informationsübermittlung. Dieses Thema ist auch schon im Bereich des Verfassungsschutzes angegangen worden.

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie sitzen ja hier als Präsident des BKA. Und wenn man nur mal sozusagen die Haltung des BKA Revue passieren lässt, dann weiß man ja, dass das BKA es 2004 ablehnte, die Ermittlungen in der Mordserie zu übernehmen. Dann im April 2006 nach dem neunten Mord, als die Ermittler noch immer völlig im Dunkeln tappten, wollte das BKA die Ermittlungen an sich ziehen. Das scheiterte politisch. 2007 dann plötzlich offenkundig kein Interesse des BKA mehr, die Federführung zu übernehmen.

Also, dieses Hin und Her von heute betrachtet, Herr Ziercke, ist das nicht doch ein Zeichen von Unentschlossenheit oder Sprunghaftigkeit?

Jörg Ziercke: Ja, das habe ich auch gelesen. Und es sind Interpretationen. Ich darf Ihnen sagen, ich bin der Präsident des BKA seit Februar 2004. Mir hat zu keinem Zeitpunkt ein Antrag – weder von der bayerischen Landesregierung noch von der Justiz in Bayern – vorgelegen, ein Verfahren zu übernehmen, was ich dann hätte ablehnen können. Das haben wir einfach nicht getan.
Es hat hier eine Aushandlung stattgefunden vor dem Hintergrund, dass Polizei Ländersache ist, dass diese Verfahren auf Landesebene anlaufen und dass jede Landespolizei zunächst mal schaut, wie schaffe ich selbst, diese Ermittlung zu befördern und unter welchen Bedingungen – auf der Fachebene, auf der Sachbearbeiterebene hat man diese Informationen ausgetauscht – könnte man dann daran denken, das Bundeskriminalamt ins Boot zu bringen.

Diese Aushandlungen sind ausschließlich auf der Sachbearbeiterebene gelaufen. Da habe ich überhaupt keine Kenntnis von gehabt. Ich habe erst Kenntnis bekommen, als die bayerische Landesregierung, das Innenministerium ein Ersuchen an uns gerichtet hatte, dass wir ergänzende strukturelle Ermittlungen übernehmen sollten, was den Bereich der organisierten Kriminalität angeht. Und genau diesen Antrag habe ich positiv beschieden. Das heißt, ich habe genau das getan, was die von uns erwartet haben. Und zu keinem Zeitpunkt, weil wir auch keine anderen Informationen hatten als diese Spur organisierter Kriminalität, habe ich einen solchen Antrag abgelehnt. Das ist schlicht falsch.

2006 hatten wir eine etwas andere Situation. Wir haben dann erkannt, dass durch weitere Morde, weitere Länder, die ja einbezogen worden waren, eine Situation entstand, dass die Informationsstruktur sich verändert hatte, dass der Umfang der Ermittlungen viel komplexer geworden war. Wir haben dann von uns aus gesagt, dieser Fall, wenn er denn so weitergehen sollte, es waren ja auch Zwischenräume zwischen den einzelnen Morden, der müsste vor dem Hintergrund, dass wir organisierte Kriminalität vermuten, jetzt zu dem Punkt geführt werden, dass das Bundeskriminalamt das übernimmt.

Das haben wir dann sehr fein aufgeschrieben, haben auch Vorschläge gemacht für eine Neuorganisation, der besonderen Aufbauorganisation, und haben das dann an das Innenministerium und damit letztlich auch an die bayerische Landesregierung herangetragen. Und das ist dann abgelehnt worden.

Und wenn ich heute lese, ja, weil die 2004 nicht wollten, was so nicht stimmt, 2006 etwas abzulehnen, also, das kommt mir vor wie im Kindergarten. Also, man muss ja dann die Tatsachen zugrunde legen und sich fragen: Was ist bis dahin passiert und welche Voraussetzungen haben sich geändert, um tatsächlich anders einzusteigen.

Aber ich muss auch ergänzen: Auch wir sind damals der Meinung gewesen, es handelt sich um organisierte Kriminalität, überwiegend internationale Rauschgiftkriminalität. In diesen Bezügen hätten wir die Täter suchen müssen, möglicherweise mit Bezug in die Türkei, das waren ja intensive auch Ermittlungen. Diese Frage Rechtsextremismus ist auch behandelt worden, aber nicht von der Dominanz her in einer Form, weil die anderen Informationen übermächtig waren, die auf diese Spur letztlich hingedeutet haben.

Also, ich kann dazu nur noch mal sagen, das BKA hat hier keinen Slalomkurs gefahren. Auch 2007, als dann die Frage war, können wir in bestimmter Weise weiter unterstützen, da war letztlich die Frage, ob die vorhandenen Ressourcen im BKA ausreichen, wiederum auf der Sachbearbeiterebene, auch das ist nicht zu meiner Kenntnis gekommen. Ich habe auch da nichts abgelehnt 2007. Und ich muss ja wohl erwarten, dass in einem solchen Fall von so großer Bedeutung, wo am Ende eine Landesregierung entscheidet oder ein Justizministerium oder Innenministerium entscheidet, dass man da zumindest dem Präsidenten des BKA einen offiziellen Antrag zuschickt, den er dann auch bescheiden kann. Das ist hier nicht geschehen.

Deutschlandradio Kultur: Herr Ziercke, alles, was Sie schildern, zeigt doch, es fehlte im Grunde genommen an einer zentralen Führung, jemand, der sozusagen federführend von Anfang an Ermittlungen übernimmt. Was bedeutet das für die Zukunft? Sollte beispielsweise nach dieser Pannenserie der Schluss gezogen werden, die Kompetenzen viel früher und dann unumstößlich etwa beim BKA anzusiedeln?

Jörg Ziercke: Also, man muss sich bei dieser Frage mit der Sicherheitsarchitektur in Deutschland auseinandersetzen. Man muss fragen: Warum haben wir diesen Polizeiföderalismus? Das ist ja nach dem Kriege, nach den Erkenntnissen der Alliierten in Hitlerdeutschland eingeführt werden. Es sollte keine starke zentrale Polizeigewalt in Deutschland mehr geben. Es sollte eine klare Trennung sein zwischen Verfassungsschutz und Polizei, Stichwort Trennungsgebot. Das heißt, es sind absichtsvolle Entscheidungen gewesen, die ins Grundgesetz sogar Eingang gefunden haben. Polizei ist seitdem Ländersache. Und der Bund darf nur bestimmte, genau definierte Aufgaben übernehmen.

Man wollte von Vornherein kein deutsches FBI. Das heißt, das BKA sollte nicht, wie in Amerika die so genannten Field Offices, in den einzelnen Staaten vor Ort präsent sein, sondern wir sollten zunächst mal sozusagen als Behörde, die Informationen sammelt, die damit dann den Verkehr der deutschen Sicherheitsbehörden auch mit dem Ausland koordiniert, den Polizeibericht koordiniert, tätig werden. Im Laufe der Jahre haben wir dann zusätzliche originäre Zuständigkeiten bekommen, im Bereich Rauschgifthandel, Wirtschaftskriminalität, im Bereich des internationalen Terrorismus, im Hinblick auf den Generalbundesanwalt als unseren Auftraggeber. Aber wir haben nicht für jedwede Mordermittlung Zuständigkeiten bekommen.

Das heißt, die Länder kämpfen zurecht darum, Polizei ist Ländersache nach Grundgesetz, dass das, was das Grundgesetz vorsieht, auch eingehalten wird. Also, von daher muss man sich mit diesen Grundfragen der deutschen Sicherheitsarchitektur auseinandersetzen. Man muss wissen, wenn man jetzt eine Änderung will und sagt, das BKA soll jederzeit irgendetwas an sich ziehen können, dass das ein erheblicher Eingriff in die Gesamtinfrastruktur wäre und dass das ein deutliches Übergewicht für den Bundesinnenminister wäre gegenüber jedem Landesinnenminister. Also, die Frage muss genau diskutiert werden.

Deutschlandradio Kultur: Wenn die Zeiten sich ändern, Herr Ziercke, und die bösen Buben ändern sich, wäre es dann nicht vielleicht auch Zeit die Gesetze zu ändern? Andersrum gefragt: Sollte dieses Trennungsgebot vielleicht nicht mal überdacht werden?

Jörg Ziercke: Also, wir haben ja, wenn ich die letzten zehn Jahre nehme und den islamistischen Terrorismus nehme, große Erfolge gehabt genau mit diesem Modell. Wir haben nur mit diesem Modell es im Grunde geschafft, das ist meine feste Überzeugung, weil wir die Information von der Basis über die Landeskriminalämter sozusagen mit deren Bewertung direkt auf Bundesebene bekommen, haben wir es geschafft, im Bereich des internationalen Terrorismus acht schwere Anschlagsversuche in Deutschland abzuwehren.

Diese Geschichte ist jetzt ein anderes Beispiel. Da haben Sie völlig Recht. Wobei der Rechtsextremismus in diesem Fall, das muss man noch dazu sagen, durch ein Bundesland, durch ein Landesamt für Verfassungsschutz als ein regionales Phänomen eingestuft worden war, was auf Verfassungsschutzseite nicht zu der Verpflichtung, bisher jedenfalls oder bis diese Terrorzelle aufgedeckt wurde, nicht zu der Verpflichtung geführt hatte, das dem Bundesamt für Verfassungsschutz zu melden. Das hat man jetzt geändert.

Das heißt, wir haben hier eine wichtige Änderung vorgenommen, dass solche Informationen auch auf jeden Fall an die zentrale Stelle gemeldet werden müssen. Das war bis dato nicht der Fall. Das muss man wissen. Und das muss man jetzt genau vor dem Hintergrund sehen, ob man eine solche Veränderung der Sicherheitsarchitektur in Deutschland wirklich will. Bisher ist es so: Der Verfassungsschutz ist im Vorfeld tätig. Die Polizei ist klar abgegrenzt im Bereich konkreter Gefahren und konkreter Straftaten tätig.

Der Verfassungsschutz, das sagt das Trennungsgebot, darf nicht festnehmen. Er darf nicht durchsuchen. Er darf nicht beschlagnahmen. Das heißt, diese exekutiven Funktionen darf nur die Polizei ausüben. Er darf Informationen erheben. Und wir dürfen selbstverständlich nach der Gesetzeslage Informationen untereinander austauschen. Also, das ist mal kurz beschrieben die Sicherheitsarchitektur. Und dieses zu verändern, muss man ganzheitlich sehen, nicht auf einen Fall bezogen, sondern ganzheitlich sehen. Bisher hat’s funktioniert. In diesem Fall hat man das Informationsproblem – regionale Ebene/ Verfassungsschutz – gehabt. Das hat man geändert inzwischen.

Deutschlandradio Kultur: Herr Ziercke, der Fall der NSU ist ja noch nicht ausgestanden. Es wird ja weiterhin natürlich ermittelt. Können Sie denn verraten, mit wie viel Menpower das BKA derzeit an der Aufarbeitung der NSU-Verbrechen engagiert ist?

Jörg Ziercke: Ja, wir sind ja seit rund sieben Monaten dabei, haben also die letzten 6,5 Monate mit einer Stärke um die 380 bis 430 in der Spitze dieses Verfahren bearbeitet, also mit einem enormen Aufwand. Über 1.000, 1.500 Vernehmungen haben wir durchgeführt. Wir haben 6.600 Asservate, also potenzielle Beweismittel zu analysieren gehabt. Es geht um 2,3 Terrabyte an Daten, also, elektronische Daten, eine Unzahl von Hinweisen und Spuren, die also verfolgt worden sind. Und wir sind im Moment dabei, vor dem Hintergrund jetzt auch der Haftprüfungstermine, auch dessen, was zu erwarten ist in der nächsten Zeit, die Spuren auch so weit endbearbeitet zu haben, dass wir sagen können, wir können die Personalstärke zurückfahren. Das haben wir auch schon getan. Wir sind jetzt so bei 280 Mitarbeitern – immerhin aber noch.

Und ich muss hier auch sagen: Hier haben die Länder in hervorragender Weise geholfen. Ich habe ja zweimal zusätzliche Länderkontingente angefordert, zweimal je 50 Mitarbeiter, die auch gekommen sind.

Deutschlandradio Kultur: Von den LKA?

Jörg Ziercke:Von den Landeskriminalämtern und von den Landesdienststellen, also, aus den Ländern, wenn Sie so wollen. Diese Hilfeleistung zwischen den Ländern, die ist bemerkenswert gewesen. Und dadurch haben wir es eigentlich auch nur geschafft, dass wir unseren eigenen Betrieb noch aufrecht erhalten konnten und gleichzeitig dieses Verfahren mit einer ganz neuen Dimension eigentlich, die wir so vorher auch nicht hatten, das muss man ja auch mal sagen.

Und ich sage das auch ganz offen. Ich habe es selbst auch nicht für möglich gehalten, dass in einem Rechtsstaat des 21. Jahrhunderts, wie wir in der Bundesrepublik Deutschland, eine Terrorgruppe zehn Jahre untertauchen kann und dass von dieser Gruppe Exekutionen durchgeführt werden aus rechtsextremistischer Motivation - Rassisten in Deutschland, die Exekutionen durchführen. Und das ist ja auch das, was ich am Anfang schon sagte. Wo sind die Hinweise der Journalisten, die Hinweise der Politik, der Wissenschaftler, auch der Polizei selbstverständlich, wenn das alles so klar war – wie es im Nachhinein scheint?

Wer hat das geglaubt überhaupt in Deutschland, vor allem, dass sich eine Gruppe so abgeschottet dargestellt hat, mit solcher Unterstützung dargestellt hat? Und wenn das dann noch so sein soll, wie der 3. Strafsenat annimmt, dass selbst die Freunde, die unmittelbar dran waren, die unterstützt haben, nicht gewusst haben könnten oder sollten, dass diese Leute Morde begehen, wie dicht hätte dann die Polizei oder hätte der Verfassungsschutz an dieser Gruppe dran sein müssen, um das zu erkennen. Das ist das eigentliche Phänomen in diesem Fall, wie ich es jedenfalls empfinde.

Deutschlandradio Kultur: Aber sie wurden ja gesucht. Sie wurden beobachtet, das weiß man aus Thüringen, nur offenkundig nicht in der Richtung, in der sich die Sache dann entwickelt hat.

Jörg Ziercke: Genau. Das hat keiner angenommen. Und auch da ist genau der Punkt, den Sie ansprechen. Hier muss man exakt fragen: Was ist dort ermittelt worden? Welche Informationen hat man gehabt? Welche Informationen hat man weitergeleitet, hat man nicht weitergeleitet? Das ist genau für mich der Punkt, dass hier strukturelle Aspekte zusammenfließen möglicherweise mit dem Versagen von Einzelnen oder den Pannen von Einzelnen.

Aber deshalb noch mal: Ich bin der Meinung, die deutschen Sicherheitsbehörden müssen dann auch fair behandelt werden an dieser Stelle, wenn man den Kübel über sie ausschüttet – bei all dem Leid, bei all dem, was geschehen ist, das sehe ich durchaus ein und ich fühle mich da auch persönlich mit verantwortlich, dass wir das nicht erkannt haben insgesamt. Und ich versuche verständlich zu machen, warum das möglicherweise so gelaufen ist. Man muss dann aber auch sagen, dann muss diese Kombination von strukturellen Versäumnissen oder Problemen auf der einen Seite und persönlichen Versäumnissen, die müssen dann angemessen bewertet werden.

Deutschlandradio Kultur: Herr Ziercke, wurde beim BKA der Fokus in den letzten Jahren zu sehr auf den Terrorismus von links bzw. auf den islamistischen Terrorismus gelegt, so dass die Gefahr von rechts vernachlässigt wurde?

Jörg Ziercke: Dem widerspreche ich ganz entschieden. Die deutsche Polizei ist nicht auf dem rechten Auge blind, wie man immer mal wieder hört, sondern wir haben erhebliche Anstrengungen unternommen in all den Jahren. Wir haben erhebliche Aufklärungserfolge auch gehabt, auch was die neuen Formen des Rechtsextremismus im Internet angeht, was Internetforen angeht, Internetradios angeht, die rechtsextremistisch eindeutig orientiert waren. Die Untersuchungsmaßnahmen und Festnahmen, das kann man belegen, das ist eine endlose Kette im Grunde an Reaktionen des Staates.

Aber ich sage auch, auch selbstkritisch: Vielleicht hätte man Mitte der 90er Jahre oder Anfang der 90er-Jahre schon erkennen können, dass sich hier in diesem Spektrum – noch nicht in dieser ganzen Schärfe jetzt – etwas entwickeln könnte, wo wir uns anders aufstellen müssen in Deutschland. Und das, was wir heute gemacht haben, ist ja, dass wir ein gemeinsames Abwehrzentrum Rechts eingerichtet haben, Bundeskriminalamt und unser Verfassungsschutz mit den Ländern gemeinsam, mit dem Ziel, alle Informationen des Rechtsextremismus, aller Verfahren zu bündeln und daraus dann die Schlussfolgerungen zu ziehen.

Deutschlandradio Kultur: Ist man da schon so arbeitsfähig, wie Sie sich das wünschen würden?

Jörg Ziercke: Wir haben damit begonnen. Die Informationen fließen zusammen. Man hat also, seit wir das Zentrum haben, das ist erst seit einigen Monaten der Fall, über 600 verschiedene Fallkonstellationen, Fälle, wenn Sie so wollen, Ermittlungsverfahren erörtert. Es hat eine Vielzahl, vielleicht ist Ihnen das auch aufgefallen, eine Vielzahl von exekutiven Maßnahmen, jüngst jetzt in Brandenburg wieder, gegeben. Wir haben kurz vorher das Thiazi-Forum aufgeklärt. Und das hat’s in der Vergangenheit von den Bayern gegeben, von den Hessen, von Nordrhein-Westfalen gegeben.

Das heißt, diese Form, sich mit einem Phänomen so konsequent und so intensiv zu beschäftigen, da, würde ich sagen, da ist der eigentliche Punkt, der aber bereits Mitte der 90er Jahre liegt, als die Kameradschaften begannen sich zu konstituieren, als das Thema war, werden die von der NPD aufgenommen oder an die NPD angelehnt, also, parteiungebundene Gruppierungen. Denn wir haben eine sehr heterogene Landschaft im Rechtsextremismus in Deutschland.
Und wenn ich überhaupt aus der Sicht des Bundes das jetzt feststelle, dann würde ich sagen, das, was wir jetzt gemacht haben, das hätten wir schon zehn Jahre früher machen müssen, mindestens zehn Jahre früher.

Deutschlandradio Kultur: Herr Ziercke, vor rund einem Jahr, als man noch nichts wusste von der Terrorzelle NSU, haben Sie in einem Interview gesagt, der Linksextremismus sei ähnlich bedrohlich wie der Rechtsextremismus. Ist diese Einschätzung weiter aktuell in dieser Form?

Jörg Ziercke: Also, wir haben ja eine Situation im Linksextremismus, die dadurch gekennzeichnet ist, dass wir eine Zunahme der Gewalttaten haben, dass wir Angriffe auf Polizeibeamte bei Demonstrationen haben, dass wir Auseinandersetzungen Rechts und Links bei Demonstrationen haben. Ich muss ja nur an Berlin erinnern, an Hamburg erinnern. Ich kann an die Brände erinnern, die wir auf Bahnanlagen gehabt haben, die den Verkehr lahmgelegt haben, auf Autobrände zum Teil, die diesem Spektrum zuzuordnen sind, auf Gebäude, auf Polizeidienststellen, Racheaktionen, wo nur mit viel Glück niemand ums Leben gekommen ist.

Von daher kann ich nur sagen: Wir haben zwar keine Hinweise, dass hier gezielt, ganz gezielt Tötungen vorbereitet werden aus diesem Spektrum, das unterstelle ich auch nicht. Insofern sagen wir nicht, dass wir eine linksterroristische neue Bewegung haben in Deutschland. Aber wir haben eine linksextremistische Bewegung, die sehr aufmerksam zu beobachten ist. Und diese Gewalttaten, die von diesen Leuten begangen werden, sind einfach nicht zu tolerieren, einfach nicht zu akzeptieren. Und werden auch dagegen, wie wir es auch schon getan haben, konsequent vorgehen.

Deutschlandradio Kultur: Es gibt ja nicht nur die Linken, die Rechten, die Islamisten. In jüngster Zeit haben wir viel von den Rockern gehört. Irgendwo sind natürlich auch die Kapazitäten der LKA bzw. des BKA begrenzt.

Die Frage: Was kommt da zu kurz? Muss man fürchten, dass irgendwo der Verfolgungsdruck nicht so stark ist, wie er sein müsste?

Jörg Ziercke: Also, wir haben uns ja spezialisiert im Bundeskriminalamt. Ich habe eine Abteilung "schwere organisierte Kriminalität". Die beschäftigt sich mit dem Phänomen, wie gesagt, der organisierten, auch der Rockerkriminalität. Da habe ich fast tausend Mitarbeiter. Ich habe auf der anderen Seite eine Abteilung Staatsschutz, wo also auch der Rechtsextremismus, der Linksextremismus bekämpft wird, der islamistische Terrorismus. Das sind 700, 800 Leute. Also, von dieser Differenzierung her auf der einen Seite, die Sie auch in den Landeskriminalämtern wiederfinden, glaube ich, dass wir angemessen personell ausgestattet sind, obwohl wir auch in Teilen noch zusätzliches Personal natürlich brauchen werden, neue Formen der Bekämpfungen hinzukommen. Das ist klar. Aber ich kann nicht erkennen, dass dies dazu geführt hat, den Rechtsextremismus oder den Linksextremismus zu vernachlässigen. Im Gegenteil, die Erfolge, die wir auch gehabt haben im Bereich des islamistischen Terrors zeigen ja, dass wir dies nicht vernachlässigt haben.

Und auch die organisierte Kriminalität in Deutschland ist eine spezifische Erscheinungsform, unterliegt spezifischen Veränderungen auch, weil sie immer komplexer, immer internationaler, immer technologisch anspruchsvoller geworden ist. Und das ist eigentlich das zentrale Problem. Aber auch da sind wir dabei, was den Bereich Cybercrime angeht, uns neu aufzustellen. Wir müssen da mit der Zeit gehen.

Das heißt, die Zeit ist so dynamisch, was Kriminalitätsentwicklung in Europa, in der Welt angeht, auch mit durch das Internet natürlich als Folge, dass wir dort Anpassungsbedarf haben. Und den werden wir auch in diesem Jahr noch durchführen.

Deutschlandradio Kultur: Handeln nach Ihrer Einschätzung eigentlich Politiker verantwortungslos, wenn sie sich gegen die Vorratsdatenspeicherung aussprechen?

Jörg Ziercke: Also, ich akzeptiere eine politische Meinung und unterstelle niemandem, dass er verantwortungslos handelt, sondern dass er nach bestem Wissen und Gewissen seine politische Meinung kundtut. Gleichwohl muss ich aus fachlicher Sicht sagen: Ich würde mir wünschen, dass man intensiver mit uns über die Straftaten redet, über die Konsequenzen redet, über die Instrumente redet, dass klar wird, wie man in der virtuellen Welt ermitteln muss, anders als in der analogen Welt, dass die Instrumente, die wir dort benötigen, eben andere sind. Aber das ist eine Frage, wie schätzen wir was ein. Und es ist letztlich immer die Frage: Welches Risiko wollen wir in einer freien Gesellschaft in Kauf nehmen?

Was ich mir wünsche, ist im Grunde eine etwas ernsthaftere Auseinandersetzung mit den Fakten und Zahlen, die wir bringen. Ich habe ja im Hinblick auf die Vorratsdatenspeicherung immer gesagt: Von den über 5.000 Anfragen, wir haben das ein Jahr lang ja mal gemessen, bei den Delikten, die wir bearbeiten im BKA, bei den Anfragen, diesen 5.000, die wir an Provider gerichtet haben, haben wir in 84 % der Fälle keine Auskünfte bekommen. Und meine Mitarbeiter sagen mir: Wir haben deshalb im Bereich Kinderpornographie, bei Betrugs-, bei Wirtschaftsstraftaten, im Bereich des Terrorismus ganz klare Hindernisse der Aufklärung gehabt – bis hin zu der Feststellung, dass wir nicht aufklären konnten. Und das sagen die Landeskriminalämter.

Aber es ist gar kein Problem allein des Bundeskriminalamts, ich spreche ja hier im Grunde davon, dass 25 Staaten in Europa die Vorratsdatenspeicherung eingeführt haben. Aber meine Gegner machen es sich zu leicht, wenn sie sagen, aber der Herr Ziercke möchte da irgendetwas und das kann ja wohl nicht sein. Also, die meisten schütteln den Kopf darüber, was wir in Deutschland für einen Eiertanz hier aufführen.

Deutschlandradio Kultur: Bei Ihrem Amtsantritt, Herr Ziercke, 2004 hat Sie ein Gratulant zum "schönsten, schwierigsten und aufregendsten Amt" beglückwünscht, das die deutsche Polizei zu vergeben habe. Sie erwiderten damals, diese Einschätzung glaubten Sie bis zum Beweis des Gegenteils.

Wie sehen Sie Ihr Amt heute, acht Jahre später?

Jörg Ziercke: Das sehe ich immer noch so. Also, ich habe eine aufregende Zeit erlebt bisher – mit ständigen Veränderungen, mit ständig neuen Anforderungen. Ich bin mit dieser Aufgabe im Moment wirklich voll ausgefüllt. Und ich tue diese Aufgabe gerne. Ich kann nur sagen, was ich damals gesagt habe, ist genau so. Es ist für mich eines der aufregendsten und schönsten Ämter, schön in Anführungsstrichen, denn es ist auch ein problematisches Feld, mit dem ich es natürlich zu tun habe. Und gerade vor dem Hintergrund dieser Zwickauer Terrorzelle und dem Leid der Opfer ist es auch eine bedrückende Situation, in der man sich oft befindet.

Deutschlandradio Kultur: Ganz herzlichen Dank, Herr Ziercke.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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