"Frugale Innovationen"

Bitte nicht immer so kompliziert

Waschmaschine
Noch Fragen? Viele Waschmaschinen lassen sich ohne Gebrauchsanweisung kaum noch bedienen. © dpa/pitcture-alliance/Daniel Karmann
Von Klaus Martin Höfer · 23.08.2016
Eine Waschmaschine mit zig verschiedenen Programmen, die den Besitzer verzweifeln lässt, oder ein Wecker, an dem man ohne Bedienungsanleitung scheitert, muss das sein? "Frugale Innovationen" machen Produkte wieder simpler - und die Vorreiter kommen aus einer Branche, aus der man es nicht erwartet.
Die Lieferanten haben gerade die neue Waschmaschine in die Wohnung gewuchtet, angeschlossen, die Verpackung mitgenommen. "Wäsche waschen", das sollte doch einfach gehen. Doch die Vielfalt der Einstellmöglichkeiten verwirrt. Ohne genaues Lesen der Bedienungsanleitung geht es nicht, auch wenn später die meiste Zeit nur 40-Grad-Wäsche in die Trommel soll. Den Ingenieur und Unternehmer Wolfgang Hoeltgen regt so etwas auf:
"Haben Sie eine Waschmaschine, haben Sie eine Geschirrspülmaschine? Wie viele Programme nutzen Sie wirklich davon?"
Oder ein anderes Beispiel aus dem Alltag: komplizierte Wecker.
"Da können Sie einstellen alles Mögliche, sieben Tage dreimal am Tag in irgendeiner Form geweckt zu werden. Aber um das Ding einzustellen, mit den vier Knöpfen, die das Ding hat, da brauche ich Abitur und die Bedienungsanleitung, und die ist gerade dann weg, wenn ich das Ding mal schnell einstellen möchte."

Vielen Kunden fehlt das Geld für High-End-Produkte

Hoeltgen will das Einfache, das Handhabbare:
"Das ist der Wecker, wo ich einmal an dem Rad drehe, das Ding einstelle — das ist frugal."
Wolfgang Hoeltgen hat in Indien eine Firma gegründet, in der junge Studenten und Ingenieure nach diesen Gesichtspunkten Produkte entwickeln. Derartige "frugale Innovationen" sind tatsächlich zunächst aus dem Kontakt von Unternehmen mit Kunden in Ländern wie Indien, China und Brasilien entstanden. Die Kunden hatten schlicht nicht das Geld, teure High-Tech-Produkte zu kaufen.
Und wenn auch noch die Anfälligkeit der Produkte in subtropischen oder tropischen Klimazonen stieg und die Wartungsmöglichkeiten abnahmen, weil es zu teuer oder zu aufwändig wäre, Servicemitarbeiter dafür zu beschäftigen, sank die Bereitschaft der Käufer, diese Produkte zu erwerben.

Vorreiter der frugalen Innovation ist die Zuliefererindustrie

Diese rein wirtschaftlichen Argumente betreffen zunächst einmal Unternehmen, die für andere Unternehmen Produkte herstellen und die weltweit unterwegs sind. Henning Kroll vom Fraunhofer-Institut in Karlsruhe:
"Es gibt Produzenten von Werkzeugmaschinen in ganz unterschiedlichen Bereichen, ob das im klassischen Maschinenbau ist, ob das im Textilmaschinenbau ist, die auf 'emerging markets' unterwegs sind, die da einen chinesischen Konkurrenten haben, die da einen indischen Konkurrenten haben, und sich gegen diesen positionieren und die sich gründlich fragen, einfach weil sie auch in einem Preiswettbewerb dort stehen, was sind die Funktionalitäten, die der Kunde dort wirklich braucht, die er auch abfragt.
Das kann sich unterscheiden auch nach Markt. Selbst im Maschinenbau gibt es das, was man vielleicht als Brot- und Butter-Maschine dann früher bezeichnet hätte auch, also die einfachere Lösung, die dem Kunden dann mehr dient als die überspezifierte, komplexe, die auch leichter kaputt geht, und die man auch gar nicht immer braucht."
Eine Frau schläft im Bett, während ein Wecker neben ihr auf dem Nachttischränkchen steht.
Der Ein-Knopf-Wecker tut es eigentlich auch.© picture alliance / dpa / Patrick Pleul
Vorreiter der "frugalen Innovation", und ziemlich unbemerkt von der Öffentlichkeit, sind Unternehmen aus dem Bereich der Autoindustrie. Zulieferer für große Hersteller, die dafür oft keine Exklusivitätsklausel unterzeichnen müssen, wie bei anderen Autoteilen, die sie entwickeln. Rajnish Tiwari von der TU Hamburg-Harburg:
"Bei frugalen Innovationen haben große Automobilhersteller gesagt, ich will gar keine Exklusivität, ich will die Perfomance erreichen, ich will die Perfomance haben und ich bin maximal bereit, den und den Preis zu zahlen. Aber mit der Technologie, die du entwickelst, die kannst du ja auch gerne an andere verkaufen – wir haben da keinen Einspruch dagegen. Und diese Technologien werden dann, weil die dann gute Qualität haben, auch in Deutschland eingesetzt."
Zum Beispiel eine Dieseleinspritzpumpe, die ein deutscher Hersteller zunächst für ein indisches Auto entwickelt hatte, die nun aber auch in namhaften deutschen Autos verwendet wird. Oder eine Hupe, mit der eine halbe Million Mal gewarnt werden kann, bevor sie kaputt geht; entwickelt für Märkte wie Indien oder Ägypten, wo Autofahrer es gewohnt sind, weit öfter zu hupen als die in Deutschland. Die ursprüngliche, deutsche Hupe hatte dort bereits nach einem halben Jahr den Geist aufgegeben, erzählt Rajnish Tiwari, der sich für seine Habilitation "frugale Innovationen" erforscht.

Viele frugale Geschäftsmodelle im Dienstleistungsbereich

Auch wenn die Autozulieferer nun diese Produkte ihren hiesigen Kunden anbieten – gerne reden möchten sie darüber nicht unbedingt. Deutsche Kunden könnten möglicherweise sonst den Preis drücken wollen. Denn nicht immer wird der Preisvorteil bei der Einführung eines frugalen Produkten an den Kunden weiter gegeben, sagt Rajnish Tiwari.
Es gibt Unternehmen, die diese Gewinne einkassieren, es gibt Unternehmen, die diese Gewinne weitergeben müssen, weil der Wettbewerb an Intensität gewinnt.
Eine Boeing 737-800 des Billig-Fliegers Norwegian Air Shuttle fliegt vor blauem Himmel
Ebenfalls ein "frugales" Geschäftsmodell: Billigflieger, die zum Standardpreis nur Basisleistungen anbieten© dpa / SCANPIX NORWAY FILE
Mehr Konkurrenz und daher ein höherer Kostendruck werde aber dazu führen, dass die Produkte letztlich für den Verbraucher billiger werden, ist Tiwari überzeugt. So wie im Dienstleistungsbereich, im direkten Geschäft mit dem Endverbraucher. Auch dort hat er frugale Innovationen erkannt, auch wenn die Firmen das nicht unbedingt so nennen:
"Im Konsumentenbereich gibt es sehr viele frugale Geschäftsmodelle. Wenn Sie sich da die ganzen Discounter anschauen und Fluggesellschaften, die sagen 'no fills': Wir bieten keinen Zusatzservice an, dafür können wir den Preis stark senken."

Die Möglichkeit zum Upgrade gehört dazu

Nur die Kernbedürfnisse werden für den Basispreis angeboten, zum Beispiel der billige Flug ohne Getränke und nur mit Bordgepäck. Wichtig sei aber, das der Kunde zusätzliche Angebote buchen könne, sagt Tiwari.
"Ein Kernprinzip frugaler Innovation ist die Möglichkeit im Upgraden. Der Kunde kann auf freiwilliger Basis mehr zahlen und dafür auch mehr Leistung bekommen. Das muss nicht mit Verzicht einher gehen."
An den Hochschulen in Deutschland spielt "frugale Innovation" bislang allerdings kaum eine Rolle. Einer der wenigen Möglichkeiten, sich mit dem Thema ausgiebig vertraut zu machen, sei ein Auslandssemester in Indien, sagt Professor Cornelius Herstatt von der TU Hamburg, die dafür mit einer Hochschule in Kalifornien zusammenarbeitet. Professor Herstatt:
"Die Idee, Ingenieure mal ins ganz kalte Wasser zu schmeißen und in die Entwicklungsländer zu schicken, ist eigentlich eine ganz gute Sache, weil sie dann eben in ganz massiver Form konfrontiert werden mit den Problemen dort. Und dann, wenn sie zuhause sind, darüber reflektieren, dass es vielleicht ganz sinnvoll wäre, mal über einfachere Handhabung, Selbsterklärung und solche Dinge nachzudenken."