Frau Präsidentin

Von Monika Köpcke · 13.12.2007
Vor 35 Jahren war es alles andere als selbstverständlich, dass Frauen in der Politik hohe Ämter besetzen. Als am 13. Dezember 1972 Annemarie Renger die erste Präsidentin des Deutschen Bundestags wurde, war das für viele Kommentatoren ein kleiner Kulturschock.
"Frau Renger, wie wollen Sie denn nun angeredet werden?"

"Ja, ich möchte gerne als Frau Präsidentin angesprochen werden. Ich finde, auch gerade dadurch soll deutlich werden, wie viel sich geändert hat. Dass jetzt nämlich eine Frau auf dem Stuhl sitzt, ist ein großer Fortschritt."

Nur wenige Stunden nach ihrer Ernennung zur Präsidentin des Deutschen Bundestages gibt Annemarie Renger dieses Interview. Es ist der 13. Dezember 1972, und zum ersten Mal wird jemand aus der SPD - und zum ersten Mal wird eine Frau - dieses Amt ausfüllen. Dennoch wäre ihr das Wort vom "großen Fortschritt" womöglich im Halse stecken geblieben, hätte sie vorher gelesen, was der Presse zu ihrer Ernennung so alles einfällt.

"Frau Renger hat den unschätzbaren Vorteil, dass sie gut aussieht. Aber eine Kapazität, was das Geschäft der Repräsentanz des Parlaments und die Handhabe der Geschäftsordnung angeht, kann Frau Renger wohl kaum sein."

Nicht nur die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" hegt solche Zweifel. Landauf, landab erläutern die Journalisten das Naturgesetz, nach dem eine Zunahme der körperlichen Attraktivität automatisch mit einer Abnahme der geistigen und fachlichen Qualifikation einhergehe. Zumindest bei Frauen. Logisch. Auch der Berliner "Tagesspiegel" leistet solch eine messerscharfe Analyse:

"Die jugendlich wirkende Fünfzigerin mit dem hellen Blondhaar und der schlanken Figur ist immer noch eine auffallende Erscheinung. Das wird ihr sicherlich auch im Scheinwerferlicht der Parlamentsbühne zugute kommen. Aber wird nicht die Emanzipation in ihr Gegenteil verkehrt, wenn die Zugehörigkeit zum schwachen Geschlecht und nicht Gesichtspunkte der fachlichen Leistungsfähigkeit in den Vordergrund rücken?"

Annemarie Renger kommt aus einem durch und durch sozialdemokratischen Elternhaus. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie die Privatsekretärin des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher und trat nach dessen Tod selber in die aktive Politik ein. Seit 1953 sitzt sie im Bundestag und hat in dieser Zeit einiges erreicht: Drei Jahre lang war sie parlamentarische Geschäftsführerin ihrer Fraktion, und sie gehört zu den ersten Frauen, denen der Sprung ins Parteipräsidium gelingt.

"Meine Damen und Herren, ich bitte, Platz zu nehmen."

Als Bundestagspräsidentin besetzt Annemarie Renger das protokollarisch zweithöchste Amt im Staat. Es gehört zu ihren Aufgaben, mit der Klingel in der Hand und der Geschäftsordnung des Bundestages im Kopf, über die Einhaltung des parlamentarischen Kodex zu wachen.

"Die Bürde des Amtes empfinde ich schon sehr stark. Gerade bei turbulenten Szenen dann doch wieder auf ein Maß zurückzufahren, dass das Trennende nicht zur Feindschaft werden lässt. Das wird schwer sein, bemühen werde ich mich darum."

Mit viel Wohlwollen kann Annemarie Renger dabei nicht rechnen: Die einen stempeln sie als Alibifrau ab, die nur dem schlechten Gewissen der SPD verdankt, auf dem Präsidentenstuhl zu sitzen. Die Sozialdemokraten haben einen Monat zuvor zwar ihren größten Wahlerfolg gefeiert, aber der Frauenanteil ihrer Fraktion beträgt gerade mal fünf Prozent.

Andere munkeln, Willy Brandt wolle die Genossin lieber in der repräsentativen, aber politisch einflusslosen Position der Parlamentspräsidentin sehen als in seinem Kabinett. Brandt will die SPD nach links öffnen, und Annemarie Renger gehört dem rechten Flügel der Partei an.

"Worauf es mir ankommt, ist, dass Verständnis dafür geweckt wird, dass dieses Haus, um arbeitsfähig zu sein, eine Menge von Dingen braucht, angefangen von Arbeitsräumen bis zur Datenverarbeitung. Und wenn der Bundestag Geld kostet, sind die Menschen draußen immer sehr empfindlich."

Das Gespür für solcherlei Empfindlichkeiten stellt sich schnell als nicht sehr ausgeprägt heraus. Annemarie Renger zeigt sich gern im teuren Leopardenmantel. Während der Ölkrise steigt sie trotz allgemeiner Benzinsparorder auf einen größeren Dienstwagen um. Sie organisiert opulente Empfänge, die den Etat ihrer Vorgänger weit hinter sich lassen. 1973 meldet sich der Bund der Steuerzahler zu Wort:

"Die Bundestagspräsidentin ist für den deutschen Steuerzahler nicht gerade billig. Frau Renger setzt sich über Proteste der Öffentlichkeit weg zu einer Zeit, in der die Regierung bemüht ist, im Volk die Grundsätze von Sparsamkeit und Bescheidenheit wieder populär zu machen."

"Meine Damen und Herren, ich gebe das Ergebnis der Wahl bekannt: Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen: 492, Berliner Abgeordnete: 22, .... "

Neben all den Missstimmigkeiten erweist sich Annemarie Renger als eine Präsidentin, die die Abgeordneten souverän durch den Parlamentsalltag dirigiert. Und 1976, zum Ende ihrer Parlamentspräsidentschaft, schreibt die "Frankfurter Allgemeine Zeitung":

"Irgendwann in den letzten zwei, drei Jahren ist eine Frage eines sanften Todes verschieden: die nämlich, ob eine Frau dieses Amt werde bewältigen können. Man kann nicht einmal sagen, die Frage sei zu irgendeinem Zeitpunkt beantwortet worden. Sie hat sich einfach verflüchtigt."