Fragwürdige Ernährungstipps

Insekten-Snack und Placenta-Häppchen

Ein Mann schiebt sich einen Dominowürfel mit Grille
Grillen auf Schokolade: Ekeltrend oder Nahrung der Zukunft? © picture alliance / dpa
Eine Kolumne von Udo Pollmer · 23.02.2018
Der Hype um Urin als "besonderer Saft" ist vorbei, doch jetzt drohen uns andere Ernährungstrends den Appetit zu verderben, warnt Udo Pollmer. Jugendliche verzehren Waschmittel-Tabs und Schwangere versuchen schon ihren Föten eine gesunde Ernährung anzutrainieren.
Keine Idee ist offenbar so abstrus, als dass sie nicht Nachahmer fände. Derzeit hat der Verzehr von Waschmitteltabs Konjunktur. Dass kleine Kinder die bunten, mundgerechten Kapseln in den Mund stecken, ist kaum verwunderlich. Aber auch viele Jugendliche konsumieren diese sogenannten Tide-Pods als Mutprobe und landen dann in der Notaufnahme. Im Januar reagierte YouTube und begann Videos zu löschen, in denen sich junge Leute beim Waschmittel-Futtern gefilmt hatten.
Wie kommt es, dass Jugendliche anstandslos Waschpulver vertilgen, ohne dies beim Reinbeißen reflexartig auszuspucken? Warum fehlt ihnen die altersgemäße Einsicht, dass man nicht einfach alles schluckt, was man in den Mund stopfen kann? Die Gründe sind symptomatisch für Menschen, denen der natürliche Bezug zum Essen ausgetrieben wurde: Wenn Kinder gegen ihren lautstarken Protest miefigen Brokkoli, bittere Zucchini und grätenreichen Kochfisch runterwürgen müssen, dann macht ein Biss in die Seife keinen Unterschied. Lob erhalten Kinder nicht mehr, wenn sie sich sattessen, sondern bei allem, was ihren Widerwillen weckt.

Trinken trotz Widerwille

Über Jahre hinweg wurde hart daran gearbeitet: Den Weg in den "Ekelkonsum" bereitete eine Moderatorin des WDR. Vor 25 Jahren pries sie ihre Pisse als Lebenselixier. Von da an schwappte Urin als ein "besonderer Saft" wellenförmig durch die Gesundheitssendungen.
Inzwischen hat sich dieser Hype verpieselt, doch seither beschäftigt viele Menschen die Frage nach dem "bewussten Trinken" und der "notwendigen Trinkmenge". Die Abfüller von Mineralwasser witterten das Geschäft und verkündeten, erst zu trinken, wenn man Durst verspüre, sei viel zu spät, Durst sei ein Warnsignal.
In vielen Büros stehen nun Wasserflaschen auf dem Schreibtisch. Damit man das Trinken nicht vergisst, erscheint am Bildschirm regelmäßig die Aufforderung, wieder ein paar Schlucke zu nehmen. Wer will schon auf seinen Durst vertrauen? Auf ein System das über Jahrmillionen perfektioniert wurde? Wie kann das Gefühl für Durst schon bei jungen Menschen verloren gehen? Durst ist ein tief verankerter Trieb. Was muss man alles mit sich angestellt haben, bis ein Urinstinkt versagt?

Fliegenfänger und Placenta-Gourmets

Aktuell stehen Insekten hoch im Kurs, Foodjournalisten jauchzen vor Freude über ihre kulinarische Zukunftsvision. Derweil machen sich andere mit Todesverachtung über die menschliche Nachgeburt her.
Beide Kostformen werben um Anhänger, die Placenta-Gourmets sind gerade dabei, der Mehlwurm- und Fliegenfängerfraktion den Rang abzulaufen. Es ist egal, wer gewinnt, Hauptsache es gelingt, die Küche unserer Altvorderen zu ersetzen. Denn die macht ja krank, dick und hässlich.
Die Folgen des Irrsinns bleiben nicht aus: Die "Diagnose Essstörung hat deutlich zugenommen", titelt das Ärzteblatt. Das ist aber keine harmlose Störung, hier wurde der Appetit ausgehebelt. Erschreckend viele haben es geschafft, Lebensfreude, Ekel und Hungergefühl nachhaltig zu ruinieren. Nicht wenige Essgestörte bezahlen diesen "Erfolg" mit ihrem Leben. Die betroffenen Familien gehen durch die Hölle.

Ernährungserziehung im Mutterleib

Nun hat die Szene einen Weg gefunden, wie man schon Föten verrückt machen kann: Durch Ernährungserziehung im Mutterleib. Wenn eine angehende Mutter wolle, dass ihr Kind sich nach der Geburt nach gesunder Kost sehnt, dann müsse sie sich selbst während der Schwangerschaft zusammenreißen und dürfe nur noch Gesundes essen.
Doch ob auch das Kind später Speisen mag, die die Mutter gegessen hatte, hängt wesentlich davon ab, ob es ihr auch mundete. Isst sie es nur, weil sie ihr ungeborenes Kind im Bauch dressieren will, dann funktioniert das eher weniger: Denn es werden nicht nur die Aromastoffe ins Fruchtwasser durchgerecht, damit sie der Fötus schmecken kann.
Zugleich gelangen auch die Hormone, die Zufriedenheit oder Grausen ausdrücken, über das Nabelschnurblut zum Fötus. Wenn Mutter etwas nicht mag, dann weiß der Fötus: Später einfach ausspucken und brüllen!
Während der Schwangerschaft soll es der Mutter gut gehen, ohne jede Angst vorm Essen – dann geht es auch dem Kind gut. Mahlzeit!
Literatur
Bever L: Teens are daring each other to eat Tide pods. Washington Post 17. Jan. 2018
Deshmeh J: Teenager essen weiterhin Waschmittel auf YouTube. Noizz.de 25. Jan 2018
Pollmer U: Plazenta – zu schade für den Müll? Deutschlandfunk Kultur, Mahlzeit vom 11. Mai 2017
Anon: Sollten Mütter nach der Geburt die Plazenta verzehren? Ärzteblatt.de vom 4. Jan. 2018
Kusma S: Wer will seine Placenta essen? Neue Züricher Zeitung 5. Feb. 2018
Anon: Diagnose "Essstörung" hat deutlich zugenommen. Ärzteblatt.de vom 6. Feb. 2018
Thomas C: Ein ganz besonderer Saft – Urin. Vgs, Köln 1993
Pasquet V: Wie unser Geschmack schon vor der Geburt beeinflusst wird. Geo Magazin 2018, H.2
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