Fragmentarisch, derb und kraftvoll

08.02.2013
Sein Leben oszilliert zwischen Katholizismus, Fußball, Sprache und vor allem Musik. Nun veröffentlicht Eckhard Henscheid "Denkwürdigkeiten" aus sieben Jahrzehnten - und zugleich eine Art schriftstellerische Gesamtbilanz.
"Denkwürdigkeiten" ist ein angemessen verschmockter Begriff. Im 19. Jahrhundert war er unter memoirenverfassenden Politkern und Militärs in Mode; auch Karl August Varnhagen von Ense gab seinen autobiografischen Schriften diesen Titel. An ihn knüpft Eckhard Henscheid an, wenn er nun "Denkwürdigkeiten. Aus meinem Leben 1941 - 2011" vorlegt. Dabei ist ihm bewusst, dass die denkwürdigsten Dinge und Augenblicke ungeachtet ihrer Denkwürdigkeit nur selten festgehalten werden - am wenigsten in Worten.

Doch er schätzt den Begriff ob seiner Bescheidenheit, legt er doch implizit nahe, dass nicht alles im Leben glanzvoll gewesen ist, dass es nur um ausgewählte, besondere Lebensmomente geht. Eine Autobiografie im engeren Sinne ergibt sich daraus nicht; eher eine Art schriftstellerischer Gesamtbilanz. Das gelebte Leben eines Schriftstellers besteht nun mal vor allem in dem, was er schrieb - gescheiterte Romananfänge und allerlei Fragmentarisches inklusive.

Henscheids intellektueller Werdegang lässt sich aus den Elementen Katholizismus (Franken), Fußball (1. FC Nürnberg und Eintracht Frankfurt), Sprache (vor allem) und Musik (Schubert, Wagner) zusammenfügen. Die Musikkritik stand am Beginn der schriftstellerischen Laufbahn, als Henscheid für die Lokalpresse Kritiken verfasste, ohne die zugehörigen Konzerte besucht zu haben. Seine höhere Wortempfindsamkeit befähigte ihn damals schon, lange über Worte wie "Sommerfrische" nachzudenken. Er sei, so sagt er über sich, eine "recht präzise Kreuzung aus Thomas-Mann- und Arno-Schmidt-Leser" gewesen, also "das Buchhalterischste, was es gibt. Was jedenfalls mir so einfällt. Heute".

Das Buchhalterische und das Fragmentarische gehören bei Henscheid zum Schaffensprinzip, um alles Auftrumpfende, Hochkulturhafte, Bedeutungsschwere bei sich zu vermeiden und als Kritiker bei anderen zu vernichten. Der Satiriker ist berufsmäßig ein Runtermacher, Entweiher und Destruierer. Das ist ein notwendiger, aber kein leichter Job. Wer ihn tut, wird dafür nicht geliebt. Aber einer muss es halt machen, sagt Henscheid, der im übrigen nicht zurückhaltend darin ist, sich selbst als Genie zu stilisieren, das von der Welt alles in allem dann doch eher verkannt worden ist - auch wenn er nicht klagen möchte. Aber der, der nicht klagen will, klagt ja schon.

Die Liste seiner Lieblingsfeinde oder "Peiniger" zeigt, dass es sich um Kämpfe von gestern oder vorgestern handelt. Sie reicht von Heinrich Böll ("steindumm, kenntnislos und talentfrei") über Gertrud Höhler, Hans-Dieter Hüsch, Hans Küng, Hildegard Hamm-Brücher, Margot Käßmann, Björn Engholm und Luise Rinser bis zu Günter Grass, Gerhard Zwerenz und Marcel Reich-Ranicki, den er mit einem Zitat von Max Frisch vom Literaturpapst zum "Arschloch" herunterstuft.

Das geht in den meisten Fällen relativ argumentfrei und selten underb vor sich; die Kunstform der Schmähung zielt ebenso wie die gleichfalls praktizierte Zurechtweisung tief und bedarf keiner Begründung. Das macht die Kraft dieser Prosa aus, setzt ihr aber auch enge Grenzen. Vor allem setzt sie immer schon das Einverständnis der Leser voraus und schenkt ihnen dafür die Gelegenheit zu boshaftem Kichern. Es reicht sehr oft zur scharfen Formulierung, aber nur selten zum klaren Gedanken.

Doch das ist nicht alles. Henscheid ist zu großen Gefühlen fähig, auch wenn er das zu verbergen sucht und seine schönsten "Weinanlässe" so unsentimental wie möglich in einer Liste darbietet. Da steht Schubert mit dem Lied "An den Strom" ganz weit oben. Man muss Henscheid aber auch schon dafür lieben, dass er Denkwürdigkeiten ganz anderer Art unerschrocken festhält, so zum Beispiel Angela Merkels Worte in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem: "Ich bin beeindruckt und auch im Namen Deutschlands mit tiefer Scham erfüllt. Diese Beziehungen werden immer besondere Beziehungen in Erinnerung an einzigartige Vorgänge bleiben."

Angesichts solcher Sprachverbrechen läuft Henscheid zu großer Form auf. Da kann er es gelassen ertragen, von ein paar überkorrekten, dämlichen Antifa-Kämpfern auch schon einmal als Rechter und als Antisemit entlarvt worden zu sein. Die Satire-Zeitschrift Titanic versprach daraufhin auf dem Cover ihres Heftes: "Mit neuen antisemitischen Texten von Eckhard Henscheid". Ach, war das schön! So ein entkrampfendes Heilmittel würde auch in den aktuellen Antisemitismusaufgeregtheiten ganz gut tun.

Besprochen von Jörg Magenau

Eckhard Henscheid: Denkwürdigkeiten
Schöffling & Co., Frankfurt / Main 2013
416 Seiten, 22,95 Euro