"Fast grenzenloses Vertrauen"

Aus Sicht der früheren Präsidentschaftskandidaton Gesine Schwan genießt Bundeskanzlerin Merkel bei den Bundesbürgern ein immer größer werdendes Vertrauen. Grund dafür sei die hohe Komplexität von Zukunftsfragen, die viele Menschen entmutige, sich ein eigenes Urteil zu bilden.
Nana Brink: Es ist Wahlkampfzeit, ganz offiziell sogar. Zumindest hat die Plakatierung begonnen, wie Ihnen sicher im Straßenbild aufgefallen ist. Also es ist Wahlkampf. Wahlkampf? Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber mir drängt sich der Eindruck auf, die großen Kontroversen finden nicht statt. Auch scheint keiner so recht Lust auf großen Streit zu haben. Brauchen wir diesen überhaupt, acht Wochen vor der Bundestagswahl? Die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan, zweimal für die SPD als Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten im Rennen, 2004 und 2009, kennt das Geschäft. Schönen guten Morgen, Frau Schwan!

Gesine Schwan: Einen schönen guten Morgen, Frau Brink!

Brink: Sehen Sie irgendwo Wahlkampf im Lande?

Schwan: Ich sehe eine asymmetrische Form des Wahlkampfes, wenn Sie so wollen. Also ich denke, die SPD versucht es, aber es gelingt im Moment nicht, und auch die Grünen natürlich, aber es gelingt jedenfalls, was den Widerhall in den Medien angeht, in den traditionellen Medien, und was den Widerhall in den Umfragen angeht, bisher nicht, große Kontroversen aufzuspüren, obwohl das der Sache nach natürlich erhebliche Alternativen gibt, die zur Debatte stehen. Aber sie werden nicht konturiert.

Brink: Aber eigentlich ist der Wahlkampf doch die Zeit, in der Probleme ja zugespitzt werden und jetzt, um bei Ihrer Wortwahl zu bleiben, Alternativen benannt werden. Warum wird denn so wortreich dann geschwiegen?

Schwan: Wahlkampf ist eine Form der Kommunikation, und Kommunikation findet zwischen einem Sender und einem Empfänger statt. Der Empfänger ist in diesem Fall die Wählerschaft. Und ich habe den Eindruck, dass die deutsche Wählerschaft gegenwärtig, und das auch schon seit einiger Zeit, unter einem doppelten Eindruck steht. Zum einen, dass das, was politisch zu verhandeln ist, so kompliziert ist, dass sich viele überhaupt kein Urteil mehr zutrauen, und zum anderen, dass sie, und das ist komplementär dazu, das politische Vertrauen in Politikerinnen und Politiker oder in Programme abgelöst haben durch ein persönliches Vertrauen, das fast grenzenlos ist.

Das ist eine Entpolitisierung, und ich glaube, der entscheidende Grund dafür ist, dass es Deutschland gegenwärtig vor allem im Vergleich mit den anderen europäischen Staaten so relativ sehr gut geht, jedenfalls etwa vier Fünftel der Deutschen. Einem Fünftel geht es nicht gut, aber das hat nicht so viele Chancen in der Gegenwart, sich wirklich zu bekunden. Die SPD versucht das, steht da aber auch in Konkurrenz mit der Linken und hat eben doch bisher eine Schwierigkeit gehabt, eine wirkliche linke Mehrheit in Deutschland zustande zu bekommen.

Brink: Zumindest kommt das ja beim Sender nicht an, wie Sie auch schon betont haben. Viele Leitartikler sprechen ja wohl nicht zufällig in diesen Tagen des beginnenden Wahlkampfes von Politikverweigerung, manche sogar von Zukunftsverweigerung. Warum ist das so, Ihrer Meinung nach noch mal.

Schwan: Ja, die Zukunftsverweigerung finde ich ein wichtiges Stichwort. Denn die eigentlichen Kontroversen müssten um die Zukunft der Deutschen in Europa und in der Welt gehen. Und da handelt es sich um das langfristige Interesse Deutschlands in Europa und in der Welt. Ich behaupte, die gegenwärtige Bundesregierung schadet diesem langfristigen Interesse der Deutschen in Europa zum einen, weil sie wirklich systematisch Institutionen und Verfahren der Demokratie praktisch sabotiert.

Wenn Sie jetzt einmal schauen, was gerade wieder mit der Hilfe für Griechenland passiert: Da wird erstens isoliert vorgegangen, es wird nicht abgestimmt mit den anderen europäischen Partnern vorgegangen, und diese Form von isolierter deutscher Politik in Europa haben alle Vorgängerregierungen und alle Parteien bisher vermieden.

Brink: Aber trotzdem scheinen ja, pardon, die meisten, die Masse der Bürger dem ja zuzustimmen, wie Sie ja selbst gesagt haben. Wollen die Bürger denn keine Reform, also kein Reformstress, wie die Kanzlerin ja immer sagt, oder ruht sich die Politik auf dieser Annahme aus, weil es bequem ist?

Schwan: Also ich weiß nicht, ob die Bürgerinnen und Bürger zustimmen. Wir kriegen natürlich eine Untersuchung nach der anderen. Wie authentisch das ist, wissen wir nicht. Wir haben immer wieder erlebt bei Wahlen, dass nachher die Wahlergebnisse anders waren als die Vorhersagen. Aber es ist schon wahr: Es ist eine Art Entmutigung entstanden, weil die Zukunftsfragen kompliziert sind und die Opposition den Eindruck hat, jedenfalls ist es bei der SPD der Fall, dass sie die Bürger da gar nicht aufschrecken kann. Wegen des geradezu unendlichen persönlichen Vertrauens in die Bundeskanzlerin thematisiert sie es bisher auch nicht so scharf.

Es war ja lange Zeit die Sorge, ob man überhaupt Frau Merkel angreifen darf in ihrer Politik. Und ich denke, diese Asymmetrie macht es wirklich sehr schwer. In die Zukunft zu gucken, wenn es einem akut gut geht, ist für viele ein Akt, den sie nicht gerne vollziehen, zumal, wenn sie die Sache unübersichtlich finden.

Brink: Also dann verdrängen wir die Probleme nach dem Motto, wir haben jetzt so viele Reformen hinter uns, es geht uns aber relativ gut, gesehen, wenn wir auf den Rest von Europa blicken, nach dem Motto, bitte rührt nicht dran?

Schwan: Ich habe den Eindruck, dass gerade auch die Bürgerinnen und Bürger, und das ist ja auch die Absicht vonseiten der Bundesregierung, verdrängen, welche dringenden Fragen auf uns zukommen. Das verdrängen sie. Natürlich nicht alle. Sondern man muss ja gucken – wenn man die Umfragen anschaut, haben wir ja im Grunde zwei Lager, die ungefähr gleich stark sind. Also es ist ja nicht so, dass die Deutschen so sind. Aber der Teil der Deutschen, der hinter der Bundesregierung ist, verdrängt in meiner Sicht diese Zukunftsherausforderungen.

Brink: Denken wir mal 25 Jahre zurück, da gab es noch ideologische Gräben, die waren so tief, dass viele Bürgerliche dachten, die Welt geht unter, wenn die Grünen regieren würden, oder viele junge Linke dachten, die Hand fault ihnen ab, wenn sie eine CDU-Kanzlerin wählen. Und die ist jetzt gegen Atomkraft. Gibt es keine Lager mehr in diesem Wahlkampf? Also dann auch keinen Lagerwahlkampf mehr?

Schwan: Ich glaube, dass es durchaus unterschiedliche Grundalternativen in diesem Land gibt. Das betrifft alle innenpolitischen Themen wie Familie, das betrifft Sozialsicherung, das betrifft Armut und Reichtum, das betrifft die Gestalt der Arbeitswelt, das betrifft ganz vieles, die Bildungspolitik – da gibt es nach wie vor deutliche Unterschiede, aber an der Oberfläche wird das verbal kaschiert.

Brink: Geht es Ihnen da nicht auch so, Frau Schwan, dass man sich in einem Anflug von Nostalgie dann manchmal einen polternden Franz-Josef Strauß oder einen Herbert Wehner wünscht?

Schwan: Nee! Also Poltern ist für mich nie interessant gewesen, sondern wenn, dann wünsche ich mir nostalgisch einen Willy Brandt, der in der Lage ist, Leidenschaften zu wecken für Themen, die nicht von vornherein opportun sind. In früheren Zeiten Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze oder eben auch Dritte-Welt-Politik. Und der auch eine Linie hatte bei allem Taktieren, das er als Parteivorsitzender natürlich auch gemacht hat. Aber da war eine Linie und dahinter war eine gewisse politische Leidenschaft. Und die haben wir eben nicht genügend gegenwärtig.

Brink: Die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan. Schönen Dank, Frau Schwan, für das Gespräch!

Schwan: Ich danke Ihnen. Wiederhören!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Gesine Schwan, Kandidatin von SPD und Grünen für das Bundespräsidentenamt
Die Politologin Gesine Schwan© AP
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