Fall Wulff "zutiefst peinlicher Prozess" für die Staatsanwaltschaft

Michael Naumann im Gespräch mit Dieter Kassel · 17.02.2012
Nach Ansicht von Michael Naumann hat erst die breite Medienberichterstattung die Staatsanwaltschaft dazu veranlasst, in der Causa Christian Wulff tätig zu werden. Der Ex-Kulturstaatsminister betonte die Arbeit der "Bild"-Zeitung, die für "politische Tiefenrecherchen" bisher nicht bekannt gewesen sei.
Dieter Kassel: Gestern hat die Staatsanwaltschaft Hannover beim Bundestag die Aufhebung der Immunität des Bundespräsidenten beantragt. Es bestehe ein Anfangsverdacht auf Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung im Amt gegen Christian Wulff. Gut zwölf Stunden später stehen immer noch vielen Beobachtern die Münder offen, denn einen solchen Fall hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Wir wollen jetzt unsere Münder öffnen und schließen, also reden, mit Michael Naumann, SPD-Mitglied, ehemaliger Kulturstaatsminister und heute Chefredakteur der Zeitschrift "Cicero". Guten Morgen, Herr Naumann!

Michael Naumann: Guten Morgen, Herr Kassel!

Kassel: Ist das ein Erfolg der Medien, dass die Staatsanwaltschaft sich nun entschlossen hat, gegen Wulff zu ermitteln?

Naumann: Ja, Erfolg ist natürlich ein doppeldeutiger Begriff in diesem Zusammenhang. Ich habe mich natürlich in der Vergangenheit schon gewundert, wie zurückhaltend die Staatsanwaltschaft in Hannover angesichts der bekannten, und nicht erst in der Affäre dieses Berliner Hofs auf Sylt bekannt gewordenen Umstände, verhalten hat. Das heißt, man hat eigentlich gar nichts getan, sondern gewartet, dass die Journalisten recherchieren, ob es hier ein Fall von Vorteilsannahme und damit auch ein Gesetzesverstoß gegen das niedersächsische Ministergesetz gegeben hat. Jetzt offenkundig fühlt man sich doch von den Medien getrieben, das heißt, in diesem Falle wieder einmal von der "Bild"-Zeitung, amtlich tätig zu werden. Das ist ein zutiefst peinlicher Prozess, das Ganze – peinlich, finde ich, auch für die Staatsanwaltschaft.

Kassel: Das mag sein, aber was sagt das über die Macht der Medien? Wenn wir mal zurückgehen: Horst Köhler ist zurückgetreten wegen eines Interviews – dass war in unserem Programm –, aber eigentlich wegen der Reaktionen darauf, jetzt haben wir eine Staatsanwaltschaft, die ermittelt, weil die Medien nicht lockergelassen haben. Sie haben schon gesagt, Erfolg ist da doch ein schwieriges Wort.

Naumann: Ja, also warum Herr Köhler wirklich zurückgetreten ist, ...

Kassel: ... wissen wir bis heute nicht.

Naumann: ... ist kaum noch herauszufinden. Er selber sagt es nicht, das kann ja nicht nur einzig und allein diese Empfindsamkeit aufgrund einer Kritik von Jürgen Trittin gewesen sein. Ich glaube, er ist zurückgetreten, weil er sich von der Bundeskanzlerin, die ihn schließlich aus der Anonymität seines vorigen Spitzenbeamtenseins gepickt hatte, verlassen gefühlt hat. In diesem Falle, bei Köhler waren es nicht die Medien.

Hier ist es sicherlich so, dass die Medien, das heißt, in erster Linie "Spiegel" und "Bild", ihre verfassungsmäßig geschützte Aufgabe wahrgenommen haben und recherchiert haben, nachdem ein Verdacht entstanden war, dass es da ein bisschen – wie soll man sagen – unsauber zuging in Hannover bei der Gestaltung von Staatsfesten, die in Wirklichkeit privat gesponsert waren und ähnlichen Dingen, die nun bekannt geworden sind. Also den Medien ist einerseits nichts vorzuwerfen.

Das Interessante in diesem ganzen Fall ist eigentlich immer noch, für mich ungeklärt, die Motivation, der "Bild"-Zeitung, die sonst für diese Art politische Tiefenrecherchen nicht bekannt war, und dann auch noch gegen eine Partei, die dem Blatt doch eigentlich nahe zu stehen scheint, eben die CDU. Das ist neu, ich frage mich immer noch – und das fragen sich auch viele andere Kollegen hier in Berlin in den Medien: Was waren eigentlich die Motive, dass der Duzfreund Christian Wulff in dem berühmten Fahrstuhl, mit dem er nach oben gefahren ist, den Herr Döpfner bedient, nun plötzlich wieder in den Keller gefahren wurde.

Was hat dieses Blatt getrieben, war es ganz einfach der ursprüngliche Auftrag aller Medien, in der Tat Politik zu kontrollieren und den öffentlichen Diskurs über die Prozesse der Politik zu gestalten? Das ist ja nicht unbedingt die zentrale Aufgabe der "Bild"-Zeitung in der Vergangenheit gewesen. Aber nun, das muss man einfach zu geben, hat sie das geleistet, und aus welchen Motiven auch immer.

Kassel: Aus welchen Motiven wissen wir nicht. Was wir aber wissen vom Timing her, sie hat es natürlich irgendwo auch vergleichsweise spät geleistet, denn alle Vorwürfe, die gegen Christian Wulff bisher erhoben wurden, beziehen sich auf seine Amtszeit als niedersächsischer Ministerpräsident. Er ist aber Bundespräsident inzwischen, und natürlich gab es immer wieder den Vorwurf auch an die Medien, dass die Würde dieses Amtes beschädigt wurde, auch durch die Berichterstattung.

Naumann: Ja, ach wissen Sie, wenn ich schon höre – ein Amt hat keine Würde, ein Amt ist eine Institution, sondern Menschen, die in diesen Ämtern arbeiten, haben eine Würde. Das Amt selber hat keine Würde, es ist ganz einfach nur eine Metapher, mit der man versucht, klar zu machen, dass man sich anständig zu benehmen hat, wenn man im Schloss Bellevue und mit dem Silber umzugehen weiß, mit dem Tafelsilber. Kurzum, beschädigt ist das Amt nicht, sondern beschädigt ist zweifellos nicht nur Herr Wulff, sondern – und das bitte ich doch auch zu bedenken, das ist eigentlich eine sehr schmerzhafte Sache –, nicht nur der Bundespräsident ist in dieser ganzen Angelegenheit beschädigt, sondern auch seine Familie.

Also es ist ja wirklich eine schmerzhafte Krise, finde ich, der Republik, weil hier auch Menschen, die eigentlich nichts damit zu tun haben – seine Kinder, seine Frau – in Verantwortung gezogen werden, mehr oder weniger indirekt natürlich, aber sie leiden mit. Und ein bisschen Mitleid, glaube ich, ist auch angebracht.

Kassel: Was wird denn eigentlich aus Wulff, wenn er zurücktritt, egal ob er das nun heute um elf tut oder irgendwann später?

Naumann: Ach, er ist ja noch relativ jung ...

Kassel: Na eben.

Naumann: ... und zweifellos hat er das Zeug, zum Beispiel für Volkswagen in Mittelamerika aufzutreten. Das hat auch der ehemalige Kanzler Österreichs: Viktor Klima repräsentiert offenbar sehr erfolgreich den Volkswagenkonzern in Südamerika, also da wird sich schon irgendetwas finden. Immerhin hat er im Aufsichtsrat von VW gesessen. Man wird ihn nicht völlig fallen lassen, aber darüber jetzt nachzudenken, ist eigentlich müßig. Warten wir mal ab, was er um elf Uhr sagt. Ich selber bin allerdings der Meinung, wenn er zurücktritt, dann habe ich schon einen Vorschlag, wer ihm nachfolgen sollte.

Kassel: Wir reden gerade im Deutschlandradio Kultur mit Michael Naumann, dem ehemaligen Kulturstaatsminister und Chefredakteur von Cicero. Heben wir uns Ihren – wie ich jetzt schon weiß – launigen, aber nicht ganz unernst gemeinten Vorschlag auf, um zwischendurch noch auf etwas zu kommen, was ich sehr wichtig finde. Wenn man die Berichterstattung über Wulff beobachtet hat, dann hat man den Eindruck, er – aber aus er werden ja ganz schnell die Politiker – sind irgendwelche merkwürdigen, nur an ihren eigenen Vorteilen interessierten Kreaturen, die uns nicht würdig vertreten. Was hat die Affäre Wulff, wie ich sie jetzt einfach mal wieder nenne, verursacht, was das Bild des Politikers in der Öffentlichkeit angeht?

Naumann: Ich glaube, Herr Kassel, da haben Sie schon ganz recht. Das Bild des Politikers ist prinzipiell – übrigens auch das Bild des Journalisten – ...

Kassel: Ja.

Naumann: ... in der Öffentlichkeit nicht das allerbeste. Und man geht eigentlich ungerechterweise davon aus, dass diese Vorfälle von Vorteilsannahmen und auch opulenter Rentenversorgung und hoher Diäten und so weiter, dass das alles eigentlich unverdiente Gratifikationen ihrer Arbeit seien. Ich persönlich weiß aber aus meiner Erfahrung, dass auch Bundestagsabgeordnete und Kommunalpolitiker wie die Blöden arbeiten, die kennen keinen Achtstundentag, sondern man muss schon davon ausgehen, dass sie alle fast zwölf Stunden arbeiten – und vor allem haben sie auch keinen Kündigungsschutz, wie Herr Sauerland gerade erfahren musste in Duisburg.

Kassel: Ja, da werden – entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen da ins Wort falle, bei Wulff wird ja jetzt schon diskutiert, was hat der wohl für Pensionsansprüche, wenn er am Ende zurücktritt. Also da ist es nicht so schlimm, dass man ...

Naumann: Keine, er hat keine, jedenfalls nicht aus der Arbeit als Ministerpräsident. Als Ministerpräsident wird er eine Pension bekommen, wenn er 65 ist, und das sind noch, glaube ich, mindestens zwölf Jahre hin, oder über zehn Jahre jedenfalls. Und als Präsident würde er keine Pension bekommen, weil er nicht aus politischen, sondern aus persönlichen – man muss da dann fast schon sagen, fast ehrenrührigen Gründen – zurückgetreten sein wäre. Aber soweit ist es ja noch nicht, und die bürgerliche Presse, hat Karl Marx mal gesagt, kann die Ereignisse nicht abwarten. Also warten wir noch ein bisschen.

Kassel: Ja, ich weiß nicht, ob das bei der anderen Presse besser ist, aber dennoch die Frage: An diesem Politikerbild, das nun – Sie haben es ja bestätigt – nicht gerade besser wird durch die Wulff-Affäre, wer ist daran schuld, Wulff, die Politik, die Medien?

Naumann: Ich glaube, in erster Linie das sagen zu dürfen: die Medien. Ich war ja nun zwei oder mehrere Jahre, drei Jahre lang auf der anderen Seite, zwei Jahre als Staatsminister und dann auch als politischer Kandidat in Hamburg – und was ich da erlebt habe, ist schon faszinierend. Die Form der Berichtserstattung, der Umgang mit einzelnen Politikern, mir ging es ja noch relativ gut seinerzeit, aber ich habe andere beobachtet, die ungerechterweise attackiert worden sind und sich dagegen nicht wehren oder nicht wehren wollen, weil sie es sich mit den Medien nicht verderben wollen.

Also die Symbiose zwischen Journalisten und Politikern in Berlin, wie übrigens früher auch schon in Bonn, hat nicht unbedingt immer positive Ergebnisse. Man kommt sich zu nahe, man kennt sich zu gut, dann streitet man sich, dann gibt es große Enttäuschungen, man duzt sich – das halte ich für sowieso hochproblematisch, siehe den Anruf von Wulff bei Diekmann, den Chefredakteur der "Bild"-Zeitung. Hätte der ihn nicht geduzt, wäre er nicht so ausgerastet. Also in anderen Worten: Es gibt in der deutschen Sprache und im deutschen gesellschaftlichen Verhalten diese wunderbare Form, die Sie-Form, die dafür sorgt, dass die Verhältnisse nicht zu intim werden und nicht zu familiär, und damit auch nicht so gefährdet für persönliche Ausbrüche, wie sie in normalen Familien an Weihnachten etwa üblich sind.

Kassel: Sie, Herr Naumann, sagen Sie mir jetzt bitte noch zum Schluss, wenn Wulff zurücktritt, egal, wann er es nun tut, wer wäre denn ihr Traumnachfolger oder ihr geeignetster?

Naumann: Also ich bin der Meinung, es soll jetzt endlich eine Frau in Schloss Bellevue einziehen, und da sie im Grunde genommen dieses sehr schöne Gebäude wirklich als ihr eigenes zu betrachten scheint – sie hat ja schon zwei Untermieter da hingeschickt, nämlich Herrn Köhler und Herrn Wulff –, sollte doch Angela Merkel da einziehen. Ich bin sicher, sie würde eine gute Bundespräsidentin werden, und dann – Hannover muss ja irgendwie dranbleiben – kann Frau von der Leyen nachrücken ins Kanzleramt.

Kassel: Michael Naumann, SPD-Politiker, ehemaliger Kulturstaatsminister und Chefredakteur der Zeitschrift Cicero im Gespräch in Deutschlandradio Kultur. Herr Naumann, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Naumann: Gerne!

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