Ethnograf des Alltags

23.11.2010
Es gibt Autoren, die mit ein paar Stunden im Leben ihres Helden auskommen, um darin ganze Epochen zu entfalten; und es gibt solche, die ein winziges Dorf oder auch den abgelegensten, scheinbar vollkommen unbedeutenden Platz in einer großen Stadt zur Bühne, zum Nabel der Welt machen.
Ein solcher Autor ist Martin Kessel. In seiner posthum, jetzt erstmals veröffentlichten Erzählung "Am Laubenheimer Platz" erweist er sich als Meister des Minimalen. Auf knapp 30 Seiten schildert er in einer Momentaufnahme das Leben einer bunt zusammengewürfelten Menschenschar, von Kindern und Alten, von Rentnern und Gestrandeten, irgendwann Ende der 50er Jahre.

Seinen Erzähler stattet er mit dem Blick des Flaneurs aus, einer Figur, die einst Franz Hessel mit literarischen Weihen versah. Wie sein berühmter Vorgänger weiß er, dass sich die Wirklichkeit nur dem Ethnografen des Alltags enthüllt, indem er unter der Oberfläche das "Eigenleben der Dinge und Menschen entdeckt".

So schlendert er zu allen Tageszeiten immer wieder von neuem über den Platz. Der liegt in einem Winkel Berlins, ein "von nicht zu hohen Wohnblocks umstelltes, buschiges und baumbestandenes Längseck". Weil die Zeit hier nahezu stillsteht, hat der Erzähler auch Zeit, sich umzublicken. Der Platz ist die "reinste Oase", aber doch nicht bloß ein lokales Idyll. Davor schützt die das Geschehen sanft imprägnierende Ironie.

Da ist Herr Mielenz, bekannt dafür, dass sein Hirn ein "ganzes Stecknadelkissen oppositioneller Meinungen" enthält, der sich bei Regen in einem andauernden "Klassenkampf mit den Wettermachern" befindet. Oder die rastlose Trude Spiralla, die im vierten Stock Yoga praktiziert und regelmäßig auf dem Kopf zu stehen pflegt, wobei sie immer gerade von einer Reise oder aus dem Theater zurückkehrt. Oder Herr Quentz mit seinem "verlarvten Wohlwollen", bei dem man nie weiß, "ob überhaupt eine Art Bekanntschaft vorlag".

Wie die anderen schont der Erzähler, ein ausgeprägter Anti-Idylliker, auch sich selbst nicht. Als "ausgedienter Poseur" geht er wie ein in lauter Harmlosigkeit verkleideter Detektiv umher, als wartete er darauf, dass der Platz, der eigentlich ein Erholungsort ist, endlich zu einem Schauplatz, vielleicht sogar zu einem Tatort würde, was freilich nie passiert. Der Stoff für ganze Romane liegt in diesen knappen, klug-komischen Charakterskizzen verborgen.

Dass Martin Kessel, 1901 geboren und mit vielen Auszeichnungen wie dem Büchner- und Fontanepreis geehrt, seinen Blick auf dem Pflaster von Berlin schulte, merkt man dieser schön melancholischen Erzählung über das Altwerden, das Sterben und die Vergänglichkeit in jeder Zeile an. Vom Ende der 20er-Jahre lebte er in der Künstlerkolonie rund um den Laubenheimer Platz. Damals veröffentlichte er seinen bekanntesten Roman, "Herrn Brechers Fiasko" (1932), der den Alltag kleiner Leute in der deutschen Metropole schilderte und neben Erich Kästners "Fabian" als Prototyp des neuen literarischen Genres, des Angestelltenromans galt.

Es lohnt sich, diesen Außenseiter des literarischen Betriebs, der heute völlig vergessen ist, neu kennenzulernen. Denn es passiert selten genug, dass sich im Kleinen die größere Welt auf so amüsante Weise spiegelt.
Besprochen von Edelgard Abenstein

Martin Kessel: Am Laubenheimer Platz
Friedenauer Presse, Berlin 2010
32 Seiten, 9,90 Euro