Ethnischen Säuberungen des 20. Jahrhunderts

Rezensiert von Herfried Münkler · 11.05.2007
Bücher über großflächig organisierte Massenmorde, über individuelle Sadismen, aber ebenso über kaltblütige Planungen zur möglichst effektiven, also schnellen und kostengünstigen Tötung von Menschen zu lesen, ist kein Vergnügen. Und wenn sich dabei um über fast achthundert Seiten Text handelt, kann sich die Lektüre sehr schnell zur Qual auswachsen.
Es ist darum leicht vorauszusagen, dass nur wenige der verkauften Exemplare von Michael Manns Buch über die ethnischen Säuberungen des 20. Jahrhunderts Leser finden werden, die das Werk von Anfang bis Ende durcharbeiten; vermutlich werden dies nur die Wissenschaftler und Studenten tun, die sich in ähnlicher Weise mit dem Thema beschäftigen wie der in Kalifornien Soziologie lehrende Michael Mann.

Es kommt also nicht von ungefähr, dass sich kein kommerziell ausgerichteter Verlag in Deutschland für das bereits im Jahr 2005 auf Englisch erschienene Werk interessiert hat, sondern es nun in der Hamburger Edition erschienen ist – einem Verlag, der dem von Jan Philipp Reemtsma finanzierten Hamburger Institut für Sozialforschung angegliedert ist und nicht unter dem Zwang steht, durch eine entsprechende Auflage zumindest die Kosten für die Übersetzung wieder einzuspielen. Vor allem aber gibt es am Hamburger Institut seit Jahren einen Forschungsschwerpunkt zum Völkermord im 20. Jahrhundert, so dass sich die Übersetzung von Manns voluminöser Studie in die dortigen Arbeitsprozesse einpasst.

Beschränktes Lesevergnügen, hohe Kosten – all das sagt natürlich nichts über die wissenschaftliche Qualität des Werks und das Erfordernis, seinen methodischen Ansatz und seine Ergebnisse in Deutschland über einen kleinen Kreis von Spezialisten hinaus bekannt zu machen. Tatsächlich gibt es hierzulande nämlich keine vergleichende Forschung zu den Genoziden des 20. Jahrhunderts, was sicherlich auch mit der Vorstellung von der historischen Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit des nazistischen Völkermords an den europäischen Juden zu tun hat.

Obendrein werden diese Fragen in Deutschland eher von Historikern als von Sozialwissenschaftlern bearbeitet, was eine weitere Erklärung für die hier vorherrschende Distanz gegenüber vergleichenden Methoden bei der Bearbeitung genozidaler Politiken im 20. Jahrhundert darstellt. Jedenfalls ist Manns Buch in der hiesigen Forschungslandschaft ein Unikat, und allein dies rechtfertigt nicht bloß die Kosten der Übersetzung, sondern auch die Mühen der Lektüre. Zumal es, wie schon der Titel anzeigt, mit einem Paukenschlag beginnt: Demokratisierung und ein wachsendes Risiko ethnischer Säuberungen, so die Generalthese, gehen miteinander Hand in Hand.

"Mörderische Säuberungen sind ein modernes Phänomen. In der Geschichte kamen sie manchmal vor, wenn Eroberer neues Land besetzten und die Arbeitskraft der bisherigen Bewohner nicht benötigten; später unternahmen dann monotheistische Heilsreligionen Versuche zur Zwangskonversion. Doch die Dynamik mörderischer ethnischer Säuberungen nahm erheblich zu, als moderne Völker versuchten, die Herrschaft des Volkes in einem bi-ethnischen Gebiet durchzusetzen. […] Die moderne ethnische Säuberung wird zur dunklen Seite der Demokratie, wenn ethnonationalistische Bewegungen den Staat für ihren eigenen ethnos reklamieren und ihn anfangs als Demokratie konstituieren wollen, aber später versuchen, andere Ethnien auszuschließen und zu vertreiben. Außerdem gab es noch eine dunkle Seite der sozialistischen Versionen von Demokratie. Das Volk wurde mit dem Proletariat gleichgesetzt, und nach der Revolution konnte die Säuberung des Landes von ganzen Klassen und anderen Feinden beginnen."

Aber, so der vermutliche Einwand eines deutschen Lesers, das alles trifft doch auf den Holocaust nur begrenzt oder gar nicht zu: Weder lässt sich das Deutschland der 1930er Jahre als ein bi-ethnisches Gebilde bezeichnen, wenn man denn Michael Manns eigener Definition folgt, wonach bei einem achtzigprozentigen Bevölkerungsanteil einer Nation oder Ethnie von monoethnischen Konstellationen zu sprechen ist, noch wird man die Nazis als einen konstitutiven Faktor der Demokratisierung Deutschlands nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Sturz der Monarchie bezeichnen können.

Das demokratische Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland gründet sich darauf, dass der Nationalsozialismus eine antidemokratische Bewegung und eine totalitäre Herrschaftsform war. Also kann der Völkermord an den Juden nicht ein Begleitelement der Demokratisierung gewesen sein.

Der Einwand trifft ein Kernproblem der vergleichenden Forschung, und das lässt sich in zwei Axiomen fassen: Die Begriffe, mit deren Hilfe der Vergleich durchgeführt wird, müssen sehr allgemein gehalten sein und dürften nicht an dem besonderen Selbstverständnis eines der untersuchten Fälle ausgerichtet sein. In diesem Sinne ist das Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr wohl ein Beispiel für Demokratisierung. Und zweitens darf keiner der untersuchten Fälle methodisch privilegiert werden und den Maßstab für die gesamte Untersuchung abgeben.

Generalisierende Schlussfolgerungen müssen nicht jedes Beispiel vollständig einschließen; es gibt Ausnahmen und Abweichungen. In diesem Sinne wird der Holocaust bei Mann behandelt: Die meisten der allgemeinen Schlussfolgerungen treffen auch auf ihn zu, aber keineswegs alle. Dass letzteres kein Einwand gegen eine Theorie der ethnischen Säuberung ist, expliziert Mann anhand seiner zweiten These, wonach ein Völkermord dann wahrscheinlich wird, wenn zwei alteingesessene ethnische Gruppen Anspruch auf dasselbe Territorium erheben:

"Diese These passt nicht zu einem der allerschlimmsten Fälle – dem Völkermord der Nationalsozialisten an den Juden, denn hier ging es weder um Souveränität noch um Territorium. Immerhin jedoch konstruierte Hitler in seiner Paranoia eine Bedrohung durch einen jüdisch-bolschewistischen Feind. Gemeinsam würden Juden und Bolschewiken dann, so nahm er an, mit den Deutschen um die Souveränität kämpfen, vor allem mit demjenigen Teil von ihnen, der beim Völkermord am ehesten zu Tätern werden würde. Der Holocaust wies jedoch zu viele Besonderheiten auf, um in irgendein allgemeines Modell zu passen. Alle allgemeinen Erklärungen für mörderische ethnische Säuberungen haben umgekehrt darunter gelitten, dass sie diesen einen Fall als Modell verwendeten."

Aber auch Mann kommt in seiner Untersuchung nicht darum herum, dem nazistischen Völkermord an den europäischen Juden den größten Raum in seiner Untersuchung einzuräumen. Daneben untersucht er noch mit vergleichbarer Intensität das türkische Massaker an den Armeniern, die vor allem von Serben verübten Morde an muslimischen Bosniern sowie den Völkermord der Hutus an den Tutsi in Ruanda. In diesen vier Fallstudien beschäftigt er sich eingehend mit der Vorgeschichte, und hier studiert er auch exemplarische Täterbiographien, um Aussagen über deren regionale wie soziale Herkunft, politische Einstellung und mentale Prägung machen zu können.

Eher knapp werden dagegen die stalinistischen Säuberungen und der Massenmord an den Kulaken sowie der von den bloßen Zahlen her wohl größte Massenmord des 20. Jahrhunderts, der im maoistischen China, behandelt. Etwas ausführlicher geht Mann auf die Massenmorde der Roten Khmer unter Pol Pot ein, insofern es sich hier nicht nur um eine kommunistische Säuberung, sondern auch um mit rassistischen Vorstellungen aufgeladene Massentötungen handelte.

Man kann darüber streiten, ob diese Verteilung der Gewichte angemessen und zulässig ist, zumal es in dem Buch ja um "die dunkle Seite der Demokratie" geht. Manns Gegeneinwand lautet, dass er eine Theorie der ethnischen Säuberung vorgelegt habe und weder die Stalinschen noch die Maoschen Säuberungen ethnisch motiviert gewesen seien. Es habe sich hier nicht um einen Genozid, sondern einen Politizid gehandelt, statt Völkermord also die Ermordung einer politischen Elite und ihres potentiellen Anhangs.

Hier stoßen wir auf den Preis, den das vergleichende Verfahren für seine im Ansatz weit ausgreifende Anlage zu entrichten hat: dass es eine Binnendifferenzierung der untersuchten Fälle entwickeln muss, die das, was Genozid genannt werden kann, von anderen Formen des Massenmords unterscheidet, etwa dem erwähnten Politizid oder auch, so die eher unglückliche Begriffsbildung, dem Klassizid, also die Auslöschung einer sozialen Klasse. Letzteres würde auf Stalins Vernichtung der Kulaken, der selbständigen russischen Bauern, zutreffen.

Aber begriffliche Differenzierungen sind fast immer theoretischen Vorentscheidungen geschuldet, und das ist in diesem Fall Manns dritte These, dass ein Völkermord im Sinne seiner Definition dann wahrscheinlich wird, wenn die sozialen Unterschiede und Gegensätze einer Gesellschaft von ethnonationalistischen Vorstellungen überlagert und verdeckt werden, wenn also Vorstellung und Begriff der Klasse verschwinden und in den Zurechnungen zu Ethnie und Nation aufgehen.

Sozialer Hass, materielle Habgier und Mordlust bekommen so ein klares Ziel, und zwar eines, bei dem es nicht mit bloßer Enteignung getan ist, sondern das zumindest vertrieben, wenn nicht physisch vernichtet werden muss. Am Anfang dessen steht der von Enrico Corradini für Italien geprägte Begriff der "proletarischen Nation": Soziale Benachteiligung und nationale Identität werden hier miteinander identifiziert, so dass die Bekämpfung anderer Ethnien und Nationen als ein Akt der sozialen Befreiung erscheint. So kann Michael Mann immer wieder zeigen, dass die Täter der ethnischen Säuberungen sich als Opfer derer sahen, die sie töteten, weswegen sie dies als einen Akt der Notwehr begriffen.

Dennoch: Kein Völkermord, keine ethnische Säuberung, so Manns Ergebnis, ist in der Form, wie sie stattgefunden hat, von Anfang an geplant worden. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer Reihe von Interaktionen, durch die ein Prozess der Radikalisierung und Eskalation in Gang gesetzt worden ist. Solche Dynamiken sind nicht zwangsläufig, sondern können, etwa durch kluge, weitsichtige politische Eliten oder durch das Vorhandensein eines handlungsfähigen Staates, der schlichtet und versöhnt, der aber auch über die Instrumente der Repression verfügt, blockiert werden.

Um dies zu illustrieren, beschreibt Mann die Fälle von Indonesien und Indien, wo ethnische Vielfalt nicht in einem Völkermord endete. Seine Prognose lautet: In der nördlichen Hemisphäre wird es auf absehbare Zeit keine ethnischen Säuberungen mehr geben, aber auf der südlichen Halbkugel wird man in vermehrtem Maße mit Ethnozid und Genozid zu rechnen haben. Der Fall Darfur, auf den Mann nicht mehr eingehen konnte, wäre ein erster Beleg dafür.

Michael Mann: Die dunkle Seite der Demokratie
Eine Theorie der ethnischen Säuberung

Aus dem Englischen von Werner Roller
Hamburger Edition, Hamburg 2007