Erinnerung - im Ritus erstarrt

Von Günter Franzen · 27.04.2007
Als der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder im November 2004 dem in schönster kommunistischer Säuberungstradition agierenden russischen Präsidenten Wladimir Putin bescheinigte, er sei ein lupenreiner Demokrat, löste diese Einschätzung in der sich ihrer historischen Feinfühligkeit rühmenden linksliberalen bundesrepublikanischen Öffentlichkeit kaum das aus, was man ein politisches Erdbeben nennt.
Achselzuckend bis augenzwinkernd war man bereit, die Auseinandersetzung über diese haarsträubende Unbedenklichkeitserklärung dem politischen Kabarett zu überlassen, das sich darauf verständigte, die vom Geist der Männerfreundschaft beflügelte Ergebenheitsadresse an den zukünftigen Arbeitgeber des Kanzlers zur bloßen Herzensangelegenheit herunterzustufen: Liebe macht bekanntlich blind. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

An der Beantwortung der Frage, warum Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger seinen Amtsvorgänger Hans Filbinger im Verlauf seiner Trauerrede wider besseres Wissen zum Gegner des Nationalsozialismus beförderte und zu entlasten suchte, besteht mittlerweile kein öffentliches Interesse mehr. Nicht nur, weil die zwischen dem Massenliebling Knut und dem Massenmörder Cho Seung-Hui eingeklemmte Causa Oettinger die mediale Halbwertzeit längst überschritten hat, sondern weil der mit einer Rücktrittsforderung konfrontierte Landespolitiker durch einen dreifachen Widerruf zur beschleunigten Niederschlagung des Verfahrens beigetragen hat. Ein kurzer Prozess, der sich ausnimmt wie eine späte Fußnote zum Historikerstreit von 1986: Die Exkulpierung eines toten Nazis ist hierzulande aus gutem Grund tödlich, die Kumpanei mit einem praktizierenden Stalinisten hingegen kaum der Rede wert.

Dass "die Behebung der Sache", wie sich der CDU-Generalsekretär auszudrücken beliebte, einen faden Beigeschmack hinterlässt, ist aber nicht nur auf die weidlich bekannte linksäugige Blindheit der dauererregten moralischen Elite der Nation oder die verstockten Einlassungen einer schwäbischen Maultasche namens Brunnhuber zurückzuführen, sondern auch auf das religiös anmutende Vokabular, mit dem der Zentralrat der Juden den Äußerungen Oettingers entgegentrat: Nach der Anerkennung seiner Verfehlungen, so der Sprecher des Zentralrats, Stephan Kramer "könne ein Gespräch mit der Führung seiner Organisation stattfinden, aber nicht mit dem Ziel der Absolution." Im Anschluss an das Treffen bestätigte der zerknirschte Sünder, dass ihm keine Absolution gewährt worden sei, weil er um keine gebeten habe und dass er der Erwartung seiner Gesprächspartner entsprechen wolle, "sich künftig aktiv an der Bekämpfung von Rechtsextremismus und Revisionismus zu beteiligen."

Man wird Stephan Kramer nicht widersprechen wollen, wenn er betont, dass nun keine Zeit für Schadenfreude sei und es nach der Diskussion nur Verlierer gäbe. Verloren aber hat meines Erachtens weniger die relativ witterungsbeständige bundesrepublikanische Demokratie, als vielmehr ein rituell erstarrter, rückwärts gewandter Modus der Vergangenheitsbewältigung, der, angetrieben von Entrüstungs- und Betroffenheitsrhetoriken, der Kreiselmechanik der Gebetsmühle folgt.

In ihr droht der historisch aufragende, singuläre Zivilisationsbruch der Judenvernichtung durch ein permanentes Wiederkäuen moralisch einwandfreier Lippenbekenntnisse verflacht, geglättet und schließlich bis zur Unkenntlichkeit zermahlen zu werden. In seiner gegen Ernst Nolte gerichteten Polemik "Eine Art Schadenabwicklung" beschrieb Jürgen Habermas die Funktion von Erinnerung "als Widerlegung einer fugendichten Normalität dessen, was sich nun mal durchgesetzt hat." Zwanzig Jahre später scheint das Problem eher darin zu bestehen, dass die Dauerfusion von historischer Wissenschaft und ritualisierter Erinnerung eine neue, nicht weniger undurchlässige politische Alltagspraxis begründet hat. "Wenn sich das Gedenken zur Ersatzreligion wandelt," mahnt die am Hamburger Institut für Sozialforschung tätige Soziologin Ulrike Jureit, "und beansprucht, das permanente, unbefristete und allumfassende Bewusstsein des begangenen Verbrechens zum Dogma zu erheben, gerät es in eine Sackgasse. Die Moral oder besser gesagt der Moralismus verträgt sich nicht besonders gut mit der historischen Wahrheit. Um sich ihre konstituierende Kraft zu bewahren, wird sie letzten Endes die Fakten manipulieren müssen." Mit dieser Art von verlogener Normalität sollten wir uns nicht abfinden. Weder Juden noch Nicht-Juden.


Günter Franzen, Jahrgang 1947, lebt als freier Schriftsteller und Gruppenanalytiker in Frankfurt/Main. Buchveröffentlichungen u. a.: "Der Mann, der auf Frauen flog", Hamburg 1988. "Komm zurück, Schimmi!", Hamburg 1992. "Ein Fenster zur Welt. Über Folter, Trauma und Gewalt", Frankfurt/Main 2000.