Erbinformationen jenseits der Gene

19.07.2009
Das entschlüsselte Erbgut des Menschen sollte viele Fragen der Wissenschaft und der Medizin beantworten. Doch "das Buch des Lebens" lieferte stattdessen neue Rätsel. Mittlerweile steht fest: Im Genom steht nicht die ganze Wahrheit. Es gibt einen zweiten Code, wie das Buch von Peter Spork verdeutlicht.
Nicht weniger als ein neues Zeitalter der Biologie versprachen Biowissenschaftler, als sie im Jahr 2000 die erste Version des menschlichen Bauplans vorstellten: das humane Genom. Doch je mehr man über das Erbgut erfuhr, umso deutlicher wurde, dass sich viele Fragen, durch die Untersuchung der Gene allein nicht beantworten lassen.

Es muss eine entscheidende Informationsebene jenseits der Gene geben: einen zweiten Code. Das zeigt schon der Blick auf einzelne Zellen im Körper. Eine Nervenzelle sieht ganz anders aus als eine Hautzelle, und beide Zelltypen besitzen völlig unterschiedliche Fähigkeiten. Dabei ist ihr genetisches Material, ihr Erbgut, absolut identisch. Das war der Wissenschaft im Grunde bekannt.

Man wusste: Es gibt Steuerungsmechanismen, die festlegen, welche Erbinformation umgesetzt wird und welche untätig im Zellkern schlummert. Erst in den letzten Jahren haben Wissenschaftler einige der molekularen Kontrollmechanismen entdeckt, die diese Mechanismen steuern. Seitdem boomt dieser lange brachliegende Forschungszweig: die Epigenetik.

Mit Begeisterung und Sachkunde erklärt der Wissenschaftsjournalist Peter Spork neueste Forschungsergebnisse dieser Fachrichtung. Dabei kommt er um Begriffe wie Methylierungen, Histon-Modifizierungen oder RNA-Interferenz nicht herum. Denn das sind die molekularen Mechanismen, die jedem von uns die Macht über sein Erbgut verleihen. Sie schalten Gene an oder aus und bestimmen letztlich, wer wir sind, was wir können und welche Krankheiten uns bedrohen.

Ob und wie viel wir uns bewegen, ob wir rauchen, wie viel und was wir essen und trinken und wie wir unseren Alltag gestalten, all das beeinflusst die persönliche Epigenetik, den zweiten Code. Im Gegensatz zum Erbgut, dem Genom, ist das "Epigenom" nicht festgeschrieben; vielmehr können wir es ändern. Die Epigenetik ist der Teil unserer Biologie, den wir selbst in der Hand haben. Und immer mehr Forschungsergebnisse zeigen, dass dieser Teil viel mächtiger ist, als man noch vor wenigen Jahren glaubte.

Die wichtigste Phase für die Epigenetik ist die Zeit vor, während und nach der Geburt. In diesen Wochen werden viele epigenetische Schalter am Erbgut eines Menschen dauerhaft eingestellt. Dann entscheidet sich, welche Erbanlagen ungenutzt bleiben und welche die Persönlichkeit eines Menschen aktiv gestalten. In Tierversuchen haben Wissenschaftler zeigen können, dass traumatische Erlebnisse, aber auch fürsorgliche elterliche Pflege die Epigenetik lebenslang beeinflussen.

Auch Gifte verändern dauerhaft den zweiten Code, auch wenn die Giftstoffe selbst längst aus dem Körper verschwunden sind. Peter Spork zieht daraus weitgehende Schlüsse und fordert werdende Eltern auf, sich dieser Verantwortung für den eigenen Nachwuchs bewusst zu sein. Er liefert sogar Beispiele, die zeigen, dass epigenetische Veränderungen in Einzelfällen vererbbar sind. Noch stehen entsprechende Studien auf wackligen Füßen. Aber wenn sich die Hinweise bestätigen, gerät die gesamte biologische Vererbungslehre ins Wanken

Peter Spork hat unzählige Forschungsergebnisse zusammen getragen. Immer wieder nennt er einzelne Studien und zitiert Wissenschaftler, mit denen er sich ausgetauscht hat. Obwohl die Datenbasis der neuen Erkenntnisse bisweilen dünn ist, wagt er weitreichende Schlussfolgerungen.

So gelingt es ihm, eine Brücke zu schlagen zwischen neuesten Forschungsergebnissen und dem persönlichen Alltag jedes einzelnen. Dabei kratzt er immer wieder an althergebrachten wissenschaftlichen Dogmen. Die Schlussfolgerungen, die er aus dem neuen Wissen zieht, klingen da schon eher banal: Nicht rauchen, sich gesund ernähren, Maßhalten beim Essen und beim Alkohol, mehr Bewegung, regelmäßig Sport treiben und kein Stress. Vor allem für Kinder sollte man Zeit haben, um ihnen nicht nur Gene, sondern auch eine gesunde Epigenetik mit auf den Weg zu geben.

Peter Spork liefert eine verständliche Übersicht über eines der spannendsten und leider auch kompliziertesten Forschungsfelder moderner Wissenschaft. Er stellt Zusammenhänge her, die selbst vielen Experten nicht bewusst sind. Der Fokus der Wissenschaft, aber auch vieler Medien, auf das Genom hat dazu geführt, das Erbgut als Kontrollinstanz des Lebens wahrzunehmen.

Mit dieser verengten Sichtweise räumt Peter Spork gründlich auf. Für Laien ist sein Buch nicht immer leicht zu lesen. Wer sich jedoch auf seine gelungenen Erklärungen molekularer Hintergründe einlässt, erhält viele nützliche Informationen und einen neuen Blick auf den eigenen Körper. Seite für Seite liefert dieses Buch gute Gründe, sein Leben aktiv zu gestalten. Denn wir sind eben nicht die Sklaven unserer Gene.

Besprochen von Michael Lange

Peter Spork, Der zweite Code. Epigenetik - oder wie wir unser Erbgut steuern können,
Rowohlt, 200 Seiten, 19,95 Euro