"Er sieht jedes Problem von einem religiösen Blickwinkel"

Genia Schönbaumsfeld im Gespräch mit Herbert A. Gornik · 27.03.2010
Keiner der großen modernen Philosophen hat Fragen nach Gott so nachdrücklich gestellt wie Ludwig Wittgenstein. Der Denker habe die Religion als etwas "wahnsinnig Schwieriges, aber dennoch Mögliches" gesehen, sagte die Wissenschaftlerin Genia Schönbaumsfeld.
Herbert A. Gornik: Professor Dr. Genia Schönbaumsfeld ist Senior Lecturer an der Universität von Southampton und zu Gast im Deutschlandradio Kultur, herzlich willkommen! Sie ist deswegen hier, weil sie die Spezialistin für den philosophisch-religiösen Denker der Neuzeit ist, Ludwig Wittgenstein.

Der hat mal gemeint: Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Das hat er dann aber doch Gott sei Dank nicht getan. Keiner der großen modernen Philosophen hat die Fragen nach Gott so nachdrücklich gestellt wie Ludwig Wittgenstein. Genia Schönbaumsfeld, was bedeutet das?

Genia Schönbaumsfeld: Was Wittgenstein eigentlich damit gemeint hat, er hatte ein sehr restriktives Vorstellungsvermögen von, was in der Sprache sagbar ist, also zur Zeit des Tractatus, seines Frühwerks, war er der Ansicht, dass die Sprache überhaupt nur Tatsachen beschreiben kann.

Daher, alles was außerhalb des Tatsachenbereichs liegt – und dazu gehört Ethik, Ästhetik, Religion – lässt sich nicht anhand von Sätzen sagen, die entweder wahr oder falsch sein müssen. Bei absoluten Dingen ist das jedoch nicht der Fall, die stellt man sich als notwendig vor, also wenn etwas absolute Gültigkeit hat, dann muss das Gültigkeit haben, egal, wie die Welt beschaffen ist.

Gornik: Auch jenseits der sprachlichen Formulierung?

Schönbaumsfeld: So dachte Wittgenstein jedenfalls in seinem Frühwerk, ja. Und er hat eben gesehen, dass da ein Problem besteht, wenn man einerseits denkt, die Sprache kann nur Tatsachen beschreiben, andererseits glaubt, die Ethik ist etwas Absolutes, das vollkommen die Tatsachen transzendiert, dann ist es nicht möglich, diese beiden zusammenzubringen.

Und deswegen war er der Ansicht, dass man überhaupt keine Aussagen machen kann über Ethik und Ästhetik und Religion. Also diese Dinge können nur sozusagen die Peripherie der Welt verändern, also wie man die Welt wahrnimmt sozusagen, also sie färbt den Blickwinkel vielleicht, kann man so sagen, einen, den man auf die Welt hat.

Gornik: Vor diesem Hintergrund ist das zweite Zitat, das ich gewählt habe, ja auch recht verblüffend: "Ich bin zwar kein religiöser Mensch, aber ich kann nicht anders, ich sehe jedes Problem von einem religiösen Standpunkt." Was ist das?

Schönbaumsfeld: Ja, diese Aussage hat schon sehr vielen Philosophen Rätsel aufgegeben, und da ist natürlich auch die Beurteilung Wittgensteins aufseiten der britischen analytischen Philosophen und der vielleicht mehr europäisch-kontinentalen etwas unterschiedlich am Anfang. Wie Wittgenstein also seine Richtung des Philosophierens in Großbritannien begründet hat, haben viele eben aufgrund des Tractatus ihn eigentlich als eine Art logischen Positivisten eingestuft und daher gedacht, also wenn er sagt, all diese Dinge sind unsagbar und Unsinn, dann bedeutet das, dass er diese Dinge geringschätzt.

Also die haben nicht verstanden, dass sich das logisch einfach ergibt aus seiner Theorie, aber dass er sie deswegen nicht geringschätzt, sondern sogar noch viel höher einschätzt eigentlich als das, was die Naturwissenschaft tun kann. Daher auch dieses Zitat, das passt eben auch zu dieser Interpretation Wittgensteins, dass er immer die größte Achtung hatte vor der Ethik und der Religion.

Die Frage, was genau hat er damit gemeint: Ja, ich persönlich glaube, er meint da jetzt nicht irgendwelche religiöse Inhalte, also dass er irgendwie immer an Gott denkt oder so, wenn er ein Problem betrachtet, sondern ich glaube, es hat eher einen ethischen Sinn im Sinne von, jedes Problem muss sozusagen von einer Art absoluten Standpunkt her betrachtet werden.

Gornik: Von seiner absoluten Wichtigkeit her?

Schönbaumsfeld: Ja, genau.

Gornik: Dass man das ernst nimmt?

Schönbaumsfeld: Genau. Und da gibt es auch einen Bezug zu Kierkegaard, also Kierkegaards Begriff Ernst, die Ernsthaftigkeit, also das hat Wittgenstein sehr beeindruckt. Und er selbst war ein Mensch, für den philosophische Schwierigkeiten oder philosophische Fehler eigentlich moralischen Verfehlungen gleichkommen. Und ich glaube, so etwas meint er, wenn er sagt, er sieht jedes Problem von einem religiösen Blickwinkel, so als würde er Gott enttäuschen, wenn er dieses Problem nicht richtig anpackt, nicht die richtige Lösung vorschlägt.

Gornik: Er hat manche Menschen enttäuscht, manche Fachkollegen auch, denn er hat gesagt, wir fühlen – er meinte wohl, er fühlt –, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.

Schönbaumsfeld: Ja, wobei, also das ist ein Zitat aus dem Tractatus, wobei bei wissenschaftlich hat Wittgenstein naturwissenschaftlich gemeint, also er hat da nicht die Philosophie mit einbezogen. Für ihn war schon im Tractatus, das hat sich nämlich überhaupt nicht geändert, auch im Spätwerk, also seine Vorstellung von, was Philosophie ist und was die Rolle der Philosophie ist, das hat sich nicht geändert. Also obwohl er seine anderen Ansichten so stark revidiert hat, das ist gleich geblieben.

Gornik: Er war also nicht naturwissenschaftsgläubig in dem Sinne?

Schönbaumsfeld: Nein, ich meine einerseits ja, weil er eben im Frühwerk gesagt hat, die Sprache kann nur Tatsachen beschrieben, und das hat er eindeutig von der Naturwissenschaft her übernommen. Andererseits war er von Anfang an strikt dagegen und hat das als Konfusion angesehen, wenn man glaubt, dass die Philosophie und die Naturwissenschaft dasselbe sind. Also von Anfang an hat er die Philosophie als klärende Tätigkeit gesehen, die nicht also versucht, entgegen der traditionellen Vorstellungen metaphysische Konstrukte zu bilden und metaphysische Wahrheiten zu finden.

Wittgenstein war eigentlich der Überzeugung, metaphysische, philosophische Probleme sind Scheinprobleme, und man packt sie an, indem man versucht, herauszufinden, was der Anlass ist, warum man diese Fragen stellt. Und dann muss man versuchen, also die Gründe oder warum diese Fragen überhaupt aufkommen, also diese zu beantworten, also die Frage sozusagen, warum diese Frage überhaupt erst einmal gestellt wird.

Und das bewirkt dann, dass die Frage von selbst verschwindet, dass der, der fragt, sozusagen nicht mehr fragen will, weil er eingesehen hat, das ist doch nicht so eine sinnvolle Frage, wie ich vielleicht zuerst geglaubt habe.

Gornik: Verschwindet damit auch, in seinem Verständnis das der Frage zugrunde liegende Lebensproblem vielleicht?

Schönbaumsfeld: Ja, auf jeden Fall. Also das ist auch etwas, was er am Ende vom Tractatus sagt, dass die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems. Also jemand, der mit dem Leben im Einklang ist, der ist nicht mehr geneigt, immerzu zu fragen, was ist denn der Sinn des Lebens und warum tue ich x und y, was ist der Sinn davon, was ist der Sinn meiner eigenen Existenz, es wirkt alles so sinnlos oder ... ja.

Gornik: Wir sprechen mit Genia Schönbaumsfeld im Deutschlandradio Kultur über Ludwig Wittgenstein und natürlich auch über die Frage, ob man Gott denken kann und was wir eigentlich meinen, wenn wir Gott sagen. Ludwig Wittgenstein hat ein Bild uns hinterlassen, er sagt: Der ehrliche religiöse Denker sei wie ein Seiltänzer, er geht dem Anschein nach beinahe nur auf Luft, sein Boden ist der schmalste, der sich denken lässt, und dennoch lässt sich auf ihm wirklich gehen. War das eine wunderbare rhetorische, philosophische Kunstform, oder war das auch eine Art von persönlicher Lebensentscheidung und Lebenshaltung?

Schönbaumsfeld: Beides, glaube ich. Also es fasst sehr gut zusammen, wie Wittgenstein die Religion gesehen hat: als etwas wahnsinnig Schwieriges, aber dennoch Mögliches. Was er besonders schwierig daran gefunden hat, hängt vielleicht in erster Linie damit zusammen, dass er so ein ganz traditionelles Religionsverständnis, wie es vielleicht die philosophische Tradition gezeichnet hat, abgelehnt hat im Sinne von, er hat es abgelehnt, Gott als eine Art metaphysisches Wesen zu sehen, das sozusagen hinter den Kulissen unsichtbar sitzt und die Fäden zieht. Also sagen wir jetzt ein vielleicht etwas naives Bild von Gott als übernatürlicher Person, also damit konnte Wittgenstein überhaupt nichts anfangen.

Gornik: Also grundsätzlich nicht mit einem persönlichen Gott.

Schönbaumsfeld: Na ja, es kommt darauf an, was man mit persönlich meint. Wenn man mit persönlich meint, es muss sich um eine Art Person handeln, wo man sich vorstellt, dass Gott eine Art entkörperter Person ist, also das, damit konnte Wittgenstein nichts anfangen.

Wenn man mit persönlichem Gott meint, etwas, worauf man sich persönlich beziehen kann, das Relevanz für das persönliche Leben hat, das vielleicht auch Urteile fällt über einen, also das war ein Bild, mit dem Wittgenstein sehr viel anfangen konnte, mit Gott als strafender Instanz.

Gornik: Konnte er auch mit dem Bild Gottes etwas anfangen, der als Person, also in dem Sinne Person ist, dass er eine Beziehung herstellt, dass er vielleicht auch antwortet?

Schönbaumsfeld: Ja, ich glaube schon, also vor allem zum Beispiel zu Zeiten des Ersten Weltkriegs, wo er ja ständig unter Beschuss gestanden ist, da hat er sich eigentlich Gott am nächsten gefühlt und hat auch sehr viele religiöse Reflexionen in seine Tagebücher geschrieben. Unter anderem ist es da auch um das Gebet gegangen.

Gornik: Zum Beispiel, was hat er über das Gebet gesagt?

Schönbaumsfeld: Ja, also, da ist es eigentlich immer um eine Bestandsaufnahme gegangen, ob er beten konnte oder nicht. Also es ist nicht so sehr darum gegangen, ob er jetzt in irgendeinem Sinne eine Antwort bekommt, sondern vielleicht die Tatsache, dass er überhaupt beten konnte, war schon eine Art Antwort.

Weil zu anderen Zeiten, also zu Zeiten, wo er offensichtlich mit sich selbst nicht im Reinen war, wie er auch mit den Umständen irgendwie schwer fertig werden konnte, da ist ihm das Beten ganz schwer gefallen, da konnte er überhaupt nicht beten.

Gornik: Das ist eine sehr moderne und weit verbreitete Ansicht, zumindest in der Theologie und Philosophie, die Tatsache, dass jemand beten kann, dass er Ehrerbietung zeigen kann, dass er antworten kann, gehorchen kann, als Antwort aufs Hören, ist ja schon etwas Menschliches, eine menschliche Grundeigenschaft, in Beziehung zu einem Gott.

Schönbaumsfeld: Ja, auf jeden Fall. Und es ist auch genau die menschliche Komponente, die Wittgenstein an der Religion immer am meisten fasziniert hat. Er hat auch einmal einen sehr guten Ausspruch getan, das kommt allerdings, also ist das aus der späteren Zeit, aus den 40er-Jahren, glaube ich, und da sagt er etwas, ich zitiere jetzt frei: Das Leben kann zum Glauben an Gott erziehen und es sind auch Erfahrungen, die dies tun, aber nicht im Sinne von übersinnlichen Erlebnissen, sondern gewisse Erfahrungen, Erlebnisse können einem den Gebrauch des Begriffes Gott oder die Notwendigkeit für das Gebet lehren.

Und Leiden sind da, dachte Wittgenstein, besonders geeignet, weil man da vielleicht menschlich in einem Ausnahmezustand sich befindet. Da fängt man vielleicht an zu verstehen, was der Sinn von Religion ist. Also es ist nicht etwas, vielleicht was man sozusagen so leicht im täglichen Leben, wo man den banalen Dingen nachgeht und so weiter, da ist es vielleicht viel schwerer zu sehen, also was für ein Nutzen oder für eine Notwendigkeit die Religion hat. Aber wenn sich Menschen in einem Ausnahmezustand befinden, wird ihnen vielleicht zum ersten Mal klar, was Religion bewirken kann und warum Menschen sich der Religion zuwenden.

Gornik: Gut, in einem abstürzenden Flugzeug gibt es vielleicht keine Atheisten, weil in einer solchen Grenzsituation, oder in einer schweren Krankheit, man sich erinnert, dass es vielleicht etwas geben muss, und dass man Hilfe braucht. Wir sind ja an einem schwierigen Punkt angelangt, der persönlichen, auch der persönlichen Religiosität, dieses großen Denkers Ludwig Wittgenstein.

War ihm das denn genug, zu sagen, ja, in tiefen Erfahrungen, da hat man diesen Kontakt zum unsagbaren eigentlich, zu Gott. Hat er nicht auch die Auffassung vertreten, nein, darüber hinaus, muss man Gott auch denken können? Unabhängig von meiner, ja, wir würden heute sagen, Betroffenheit, meiner Erfahrung. Also die Frage, hat Gott für Ludwig Wittgenstein objektive Realität?

Schönbaumsfeld: Das ist natürlich eins der wichtigsten und schwierigsten Fragen, was Wittgensteins Religionsverständnis betrifft, und da scheiden sich auch oftmals die Geister, also da gibt es zwei unterschiedliche Arten, das zu interpretieren. Viele Philosophen glauben, weil Wittgenstein sehr stark die Praxis betont hat, das Eingebettetsein von religiösen Begriffen im sogenannten religiösen Sprachspiel oder in einer religiösen Lebensform, und er hat auch gemeint, man kann religiöse Begriffe nicht von einem neutralen Standpunkt aus betrachten.

Also ich kann mir nicht nur den Satz zum Beispiel, Gott existiert, anschauen und mir überlegen, glaube ich diesen Satz, weil ich glaube, dass sich dieser Satz auf ein Wesen bezieht, oder glaube ich ihn nicht, weil ich glaube, dass da kein Wesen ist. Also Wittgenstein hat einmal damit begonnen zu sagen, so einfach ist es nicht, weil was Gott überhaupt bedeutet, ist nicht etwas, was von einem neutralen Standpunkt überhaupt erfassbar ist.

Also man muss sozusagen schon sich ein bisschen genauer anschauen, was für eine Rolle Gott spielt innerhalb des religiösen und theologischen Diskurses. Also viele Philosophen wollen einfach sagen können, einfach nur anhand des Satzes, ja oder nein, entweder so ein Wesen gibt es oder nicht.

Wittgenstein hat gesagt, so einfach ist es nicht, da gibt es dann vielleicht auch wieder einen Brückenschlag zu dem Zitat vom Seiltänzer, es ist eben wesentlich schwieriger, als es zuerst den Anschein hat. Also wir müssen zuerst überhaupt einmal einen Weg in den religiösen Diskurs finden.

Wenn wir das können, wenn wir es schaffen, ansatzweise diesen Weg zu finden, dann erst können wir uns darüber Gedanken machen, ob es möglich ist, an Gott zu glauben. Um es auf den Punkt zu bringen: Wittgenstein denkt, dass das eine persönliche Frage ist, also ich kann nicht sozusagen objektiv danach fragen, gibt es einen Gott, sondern ich muss fragen, kann ich an Gott glauben.

Was aber nicht bedeutet, dass Gott deswegen für den Gläubigen keine objektive Realität hat, also das möchte Wittgenstein nicht. Manche Philosophen schreiben das Wittgenstein zu, aber ich glaube nicht, dass er das denkt, also sozusagen ein Glaube für Atheisten.

Gornik: Wer noch subtiler einsteigen will, der sollte von Genia Schönbaumsfeld einen englischsprachigen Band zur Hand nehmen, vor drei Jahren erschienen, "A Confusion of the Spheres: Kierkegaard and Wittgenstein on Philosophy and Religion", in der Oxford University Press erschienen von Genia Schönbaumsfeld. Schönen Dank, dass Sie hier waren!