Entdeckungsreise in die Welt der Bilder

16.12.2010
Kunsthistoriker Horst Bredekamp liefert eine Studie über den "Bildakt": In seinem Buch sieht er die Bilder in der Rolle von Akteuren. Im Wechselspiel mit dem Betrachter sind sie keine passiven Objekte, die erst durch den Betrachter belebt werden müssten.
Eine Notiz von Leonardo da Vinci stellt der Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp an den Anfang seiner Studie über den "Bildakt". Da wendet sich ein verhülltes Kunstwerk an seinen Betrachter: "Nicht enthüllen, wenn dir die Freiheit lieb ist, denn mein Antlitz ist Kerker der Liebe." Das ist eine Warnung. Denn das Bild bleibt nur so lange stumm, bis es enthüllt wird. Entsteht zwischen Betrachter und Bild eine Blickbeziehung, dann verlangt das Bild eine Reaktion. Das Erlebnis der Bildbetrachtung kostet einen Preis. Der Betrachter bezahlt mit der Freiheit seiner "alleinigen Verfügung über sich selbst", wenn das Bild mit ihm zu sprechen beginnt. Dann ist es mit seiner Autonomie vorbei.

Bredekamp geht in seiner Definition des Bildaktes davon aus, dass die Bilder nicht stumm sind. In dem äußerst klugen und spannend zu lesenden Buch sieht er die Bilder in der Rolle von Akteuren. Im Wechselspiel mit dem Betrachter sind sie keine passiven Objekte, die erst durch den Betrachter belebt werden müssten. Sie besitzen eine eigene, lebendige Kraft. Den Bildakt definiert Bredekamp als "Wirkung auf das Empfinden, Denken und Handeln (...), die aus der Kraft des Bildes und der Wechselwirkung mit dem betrachtenden, berührenden und auch hörenden Gegenüber entsteht." Wodurch eine solche Wirkkraft ausgelöst wird, untersucht er in drei Kapiteln, die vom schematischen, substituiven und intrinsischen Bildakt handeln.

Ein Beispiel für den schematischen Bildakt ist die Lebendigkeit der Bilder. Eine spezielle Ausformung der Verlebendigung findet sich im Pygmalion-Mythos. Die von Pygmalion geschaffene Frauenskulptur wird auf seinen Wunsch und mit Hilfe der Götter lebendig. Aber lebendig geworden, zwingt die Skulptur ihren Schöpfer zu den "vielfältigsten Formen des Agierens, die vom Betrachten, Betasten bis zum Beischlaf" reichen.

Wie Körper gegen das Bild ausgetauscht werden, zeigen die Praktiken des Bildersturms, des Ikonoklasmus. In der Zerstörung von Bildern, so Bredekamp im Kapitel vom substitutiven Bildakt, werden Bilder anstelle von Körpern vernichtet. Die Bilderstürmer zerstören Bilder, "als wären sie lebendige Verbrecher, Hochverräter oder Ketzer." Bredekamp spricht vom "Leberecht" der Bilder, die bedroht sind – wie die Sprengung der Buddha-Statue von Bamiyan im März 2001 belegt.

Vom "Blickpotenzial der Kunstwerke" ist im Kapitel über den intrinsischen Bildakt die Rede. Bredekamp zeigt, wie die Beziehung zwischen Betrachter und Bild vertauscht wird. Denn es gibt Bilder, von denen sich der Betrachter angeschaut fühlt. Das bekannteste Beispiel ist der Medusen-Blick.

Im Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp haben die Bilder ihren Anwalt gefunden. Ihr Ausdrucksbegehren hat er zu seiner Sache gemacht. Indem er sich als Fürsprecher der Bilder zu Wort meldet, wird ihr Anliegen zu dem unsrigen. Die Lektüre der "Theorie des Bildakts", dieses klugen wie spannenden Buches, gleicht einer außergewöhnlichen Entdeckungsreise in die Welt der Bilder, die lange in Erinnerung bleibt.


Besprochen von Michael Opitz

Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts
Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
463 Seiten, 39,90 Euro