Energie aus Ebbe und Flut

Von Mirko Smiljanic · 04.12.2007
In der Kraft der Gezeiten erkannte der französische Ingenieur Robert Gibrat ein immenses Potenzial. Aus dem steten Rhythmus von Ebbe und Flut speist das von ihm entwickelte Gezeitenkraftwerk seine Energie. Am 4. Dezember 1967 ging an der nordfranzösischen Atlantikküste bei St. Malo das weltweit erste Gezeitenkraftwerk ans Netz.
Hamburg, im Februar 1962. Während der Nacht bricht eine verheerende Sturmflut über die gesamte Nordseeküste herein. Der Pegel in St. Pauli steigt auf die Rekordmarke von 5 Meter 70 über Normal Null. Doch so zerstörerisch solche Fluten im Einzelfall auch sind, ihre immensen Energien lassen sich auch kontrolliert nutzen, behauptete Mitte des letzten Jahrhunderts der französische Ingenieur Robert Gibrat. In der Kraft der Gezeiten, dem steten Rhythmus von Ebbe und Flut erkannte er ein ungeheures Potenzial.

An einigen europäischen Küstenabschnitten erreicht der Tidehub immerhin 16 Meter. Jochen Weilepp von Voith-Siemens Hydro, einem Unternehmen, das sich der Entwicklung von Gezeitenkraft- und Strömungskraftwerken widmet:

"Man hat vor allem an der Atlantikküste, in der Bretagne und Nordfrankreich erkannt, dass die Gezeiten sehr hohe Hübe aufweisen, und ist daher auf die Idee gekommen, man könnte diese Gezeitenhübe nutzen: indem man ähnlich wie beim normalen Wasserkraftwerk, das ja die Flüsse teilweise aufstaut, die Fallhöhe ausnutzen kann, und dann eine Turbine einsetzt, die die Fallhöhe in elektrischen Strom umwandelt."

In der Bretagne entstand schließlich nach langer Planung das erste Gezeitenkraftwerk. Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts bauten Arbeiter in die Mündung des Flusses La Rance unweit von St. Malo und St. Michelle einen 750 Meter langen Staudamm. Der Damm hat am Meeresgrund 24 Durchlässe für ebenso viele Turbinen.

"Typischerweise wird es so gemacht: Das Wasser fließt rein, wird dann aufgestaut. Und man wartet, bis Ebbe kommt, so dass man den Höhenunterschied ausnutzt."

Das Staubecken hat eine Oberfläche von 22 Quadratkilometern und ein Volumen von 184 Millionen Kubikmetern. Ein riesiger See, dessen Wasser bei Ebbe durch die Turbinen zurück ins Meer fließt und dabei elektrische Energie erzeugt.

"Die installierte Leistung, die man gewinnen kann, ist ungefähr 240 MW. Aber es wird nur durchschnittlich 18 bis 20 Prozent der Zeit genutzt, um Energie aus den Gezeiten zu holen. Das heißt, man muss 20 Prozent von diesen 240 MW rechnen."

Was einer Leistung von 600 Millionen Kilowattstunden entspricht. Verglichen mit Kohle- oder Atomkraftwerken ist das wenig. Allerdings nutzt La Rance einen kostenlosen Rohstoff, und den auch nur, wenn das Wasser zurück ins Meer fließt. Füllt sich der Staudamm bei Flut, produzieren die Turbinen zwar auch elektrische Energie, die aber nicht ins Netz fließt, sondern zusätzliches Wasser ins Becken pumpt.

"Ähnlich wie man das bei Pumpspeicherkraftwerken kennt, kann man in kürzeren Zeitabläufen im Becken bei St. Malo Energie speichern: indem man Wasser von außen reinpumpt und die Fallhöhe noch zusätzlich erhöht. Und dann, wenn drei, vier Stunden später mehr Energie gebraucht wird, wird das Wasser wieder freigesetzt."

Am 4. Dezember 1967 ist es soweit: La Rance, das weltweit erste Gezeitenkraftwerk, geht ans Netz und deckt in der Bretagne rund drei Prozent des Bedarfs an elektrischer Energie. Jahrzehntelang war es die einzige Anlage ihrer Art. Doch da weltweit nur rund 100 Buchten einen entsprechend hohen Tidehub aufweisen, suchen Ingenieure nach neuen Wegen, um die gigantischen Energien des Meeres zu nutzen. Eine Möglichkeit sind Rotoren oder Flügel - vergleichbar mit Windkraftanlagen - die auf dem Meeresgrund stehen und von einer Wasserströmung angetrieben werden.

An der britischen Küste entsteht zur Zeit ein solches Meereskraftwerk. Ein ökologisch nicht unumstrittenes Projekt, da die gigantische Anlage Flora und Fauna der Küstenregion stark beeinträchtigt. Und ob der Energiekollaps mit solchen Kraftwerken gestoppt werden kann, ist zweifelhaft. Die Kraft von Sturm- und Flutwellen zeigt immer wieder, wie schwer es ist, die Energien des Meeres zu beherrschen.