Ende der Freiheit

Von Helga Hirsch · 13.12.2006
Die polnischen Arbeiter hatten schlechte Erfahrungen: Ihre Proteste 1956 in Posen waren ebenso niedergeschlagen worden wie ihr Streik 1970 in Danzig. Dennoch wagten sie es 1980 noch einmal und genossen 16 Monate eine Freiheit, wie sie in allen anderen sozialistischen Ländern unvorstellbar war. Dann kam der 13. Dezember 1981: General Wojciech Jaruzelski rief den Kriegszustand aus.
Samstag, 12. Dezember 1981, 23.30 Uhr: 70.000 Soldaten, 30.000 Polizisten und 1750 Panzer brechen zu ihren Einsatzorten auf. 24.00 Uhr: Die Telefonzentrale in Warschau sowie der Radio- und Fernsehsender werden besetzt; Sonntag, 13. Dezember 6.00 Uhr früh: General Wojciech Jaruzelski verliest im polnischen Radio eine Ansprache, die das Ausland über Kurzwelle mitschneiden muss, da alle Telefonleitungen gekappt sind:

"Wir streben nicht nach einem Militärputsch", sagt Jaruzelski, "nicht nach einer Militärdiktatur. Der Militärrat soll nicht verfassungsmäßige Organe der Macht ersetzen. Seine einzige Aufgabe besteht in dem Schutz der gesetzlichen Ordnung im Lande und in der Schaffung exekutiver Garantien, die es ermöglichen, Ordnung und Disziplin wieder herzustellen."

Führende Mitglieder der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc werden verhaftet, der Gewerkschaftsvorsitzende Lech Walesa unter Hausarrest gestellt.

"Im Laufe einer Samstagnacht im Dezember hämmerten Funktionäre des Sicherheitsapparates an unsere Häuser, brachen die Türen mit Brecheisen auf, schlugen drauf los, spritzten uns Tränengas in die Augen, legten uns Handschellen an und fuhren uns in die Gefängnisse."

Adam Michnik wird bis 1984 in Untersuchungshaft sitzen, die meisten der über 5000 Internierten kommen im Laufe des Jahres 1982 frei.

Zwar brechen nach Ausrufung des Kriegsrechts sofort Streiks aus, doch polizeiliche Spezialtruppen schlagen den Widerstand nieder. Im Oktober 1982 wird die freie Gewerkschaft Solidarnosc verboten, bis 1989 geht sie in den Untergrund. Die Schlacht ist verloren, die Quadratur des Kreises nicht gelungen.

Solidarnosc, im Sommer 1980 als Ergebnis einer landesweiten Streikbewegung gegründet, war im Laufe weniger Monate auf fast zehn Millionen Mitglieder angewachsen. Zwar sicherte die Gewerkschaft zu, die führende Rolle der kommunistischen Partei und das Bündnissystem zu respektieren, aber das Versprechen stand im Widerspruch zu ihrem eigenen Selbstverständnis als unabhängig und frei. Mit dem Streikrecht, mit Meinungs- und Publikationsfreiheit hatte Solidarnosc das Machtmonopol der Partei faktisch gebrochen, obwohl sie seine Erhaltung andererseits als unerlässliche Bedingung ihrer Existenz sah. Denn die ganze Zeit schien das Experiment bedroht von einer Intervention der Truppen des Warschauer Pakts. Erich Honecker war einer ihrer Hauptbefürworter:

"Wir sind nicht für Blutvergießen. Das ist das letzte Mittel. Aber auch dieses Mittel muss angewandt werden, wenn die Arbeiter- und Bauernmacht verteidigt werden muss."

Bis heute lässt sich nicht mit Gewissheit sagen, ob Wojciech Jaruzelski mit der Verhängung des Kriegsrechts einer sowjetischen Intervention zuvorgekommen ist, oder ob Moskau von einem militärischen Eingreifen Abstand genommen hatte. Jaruzelski behauptete später zwar immer wieder, das Kriegsrecht sei das kleinere Übel gewesen. Juri Andropov hingegen, der Chef des KGB, hatte übereinstimmend mit anderen Genossen des Zentralkomitees am 10. Dezember 1981 in Moskau erklärt, das Vorgehen gegenüber der Solidarnosc sei allein Sache der polnischen Genossen:

"Was sie entscheiden, das wird sein. Wir beabsichtigen nicht, Truppen nach Polen zu schicken."

Doch was wäre gewesen, wenn Jaruzelski im Dezember 1981 Solidarnosc nicht unterdrückt, sondern einen weiteren Kompromiss mit ihr ausgehandelt hätte? Der polnische Historiker Andrzej Paczkowski sieht rückblickend kaum Chancen für eine gewaltfreie Lösung.

"Man kann nur mutmaßen, dass ein Kompromiss entweder eine Demütigung von Solidarnosc erfordert hätte, was nicht einmal den Panzern gelungen ist, oder weitreichende Systemveränderungen, wofür es keine Unterstützung auf Seiten der Kommunisten gab weder in Warschau noch in Moskau. Daraus folgt, dass Polen zum Kriegsrecht oder einer anderen Form der Unterordnung der unabhängigen gesellschaftlichen Bewegung verurteilt war."

Damals musste Solidarnosc wohl unterliegen. Doch mag die Gewerkschaft am 13. Dezember 1981 die Schlacht auch verloren haben, so hat sie den Krieg gut sieben Jahre später gewonnen: Im April 1989 beendete der Runde Tisch die Alleinherrschaft der Kommunisten in Polen. Es war der Anfang vom Ende des sowjetischen Lagers.
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