Émile Zola und die Rolle des Intellektuellen

"Ich klage an!"

Der französische Schriftsteller, Maler und Journalist Émile Zola
Émile Zola wurde wegen seiner Schriften verurteilt und wieder freigesprochen. © imago/Leemage
Von Arno Orzessek · 10.01.2018
Mit Émile Zola betrat ein neuer Typus die Bühne der demokratischen Öffentlichkeit: der Intellektuelle. Doch welche Rolle spielte und spielt der Intellektuelle in der Demokratie? Und wie hat sie sich verändert? Verlieren Intellektuelle mit der digitalen Revolution ihre Funktion?
Dietz Bering: "Der Intellektuelle ist die Instanz, die ein bestimmtes Menschenbild internalisiert hat mit dem Zentralbegriff der Menschenwürde und Menschenrechte und die Gesamt-Realität an diesen Begriffen misst und Disproportionen offen ausspricht und die Fähigkeit hat, das so zu sagen, dass die Leute hinhören."
Mercedes Bunz: "Veraltet ist diese Figur nicht, aber die hat sich natürlich stark verändert, zudem wir auch eine andere Situation von Öffentlichkeit haben."
Jeanette Hofmann: "Das ist eine Strapaze für das Hirn, die nicht ganz leicht zu bewältigen ist."
Manche sagen: Intellektuelle gab es schon im antiken Athen, wo Philosophen und Sophisten über die Belange der Polis gestritten haben. Anderen gilt Voltaire als erster moderner Intellektueller, weil vor seiner Kritik nichts und niemand sicher war. Man kann sich die Vergangenheit tatsächlich so zurechtlegen. Aber warum eigentlich? Da man doch das Datum genau kennt, an dem beide Karrieren in Schwung kamen: die der Intellektuellen und die des Begriffs. Es war Donnerstag, der 13. Januar 1898.
"Meine Pflicht ist es zu sprechen; ich will nicht Komplize sein. Meine Nächte würden heimgesucht werden vom Geist des unschuldig Verurteilten, der dort drüben die schlimmsten Folterqualen erleidet für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat." (Aus: J'accuse)
Ein Porträt von Alfred Dreyfus (Bild: imago stock&people)
Alfred Dreyfus © imago stock&people

"Ich klage an"

In der liberalen Pariser Tageszeitung L'Aurore erscheint unter dem Titel "J'accuse" – ich klage an – ein offener Brief des Schriftstellers Émile Zola an Frankreichs Präsident Félix Faure. Zola bezichtigt die Militärjustiz und Offiziere des Generalstabs in der Causa Dreyfus der Rechtsbeugung, der Lüge und des Antisemitismus. Binnen Stunden verkaufen sich mehr als 200.000 Exemplare von L'Aurore, das Zehnfache der normalen Auflage.
Dietz Bering: "Es war ein Fanal ohnegleichen."
Alfred Dreyfus wird zu diesem Zeitpunkt auf der Teufelsinsel in Französisch-Guyana gefangen gehalten. 1894 war der Offizier der französischen Armee verhaftet und wenig später von einem Militärgericht zu lebenslänglicher Verbannung verurteilt worden. Der Vorwurf: landesverräterische Kontakte zu einem deutschen Militärattaché.
Dreyfus war Jude. Einen schlüssigen Beweis gegen ihn gab es nicht. Die Zweifel an der Korrektheit des Verfahrens und an Dreyfus' Schuld nahmen seit seiner Verurteilung stetig zu.
Mittlerweile ist eine Staatskrise ausgebrochen: Hier die "Dreyfusards", die für den Verurteilten fechten, und zwar im Namen der Gerechtigkeit, der Menschenrechte und der Demokratie; dort die "Anti-Dreyfusards", deren Wortführer zumeist aus dem konservativen Lager, dem Klerus und dem Militär stammen. Sie halten Ordnung, Autorität und Vaterland hoch.
Für Zola jedoch ist das wichtigste Motiv der Anti-Dreyfusards viel infamer:
"Erst von heute ab beginnt die Affäre, da heute die Stellungen klar erkennbar sind: auf der einen Seite die Schuldigen, die nicht wollen, dass Licht in die Sache komme, auf der anderen die Freunde der Gerechtigkeit, die ihr Leben daran setzen wollen, dass dies geschehe." (Aus: J'accuse)

Der öffentliche Intellektuelle

Die Selbstverpflichtung zum Protest; der Unwille, ein Komplize der Macht zu werden; die Liebe zur Wahrheit; das Eintreten für Gerechtigkeit ... Man kann in J'accuse eine erste pathetische Stellenbeschreibung des öffentlichen Intellektuellen entziffern, obwohl Zola den Ausdruck nicht benutzt.
Sehr wohl jedoch die 41 politischen Zeitungen in Paris, in denen die Dreyfus-Affäre und Zolas zornige Attacke lange das Thema Nr. 1 sind. Und es sind diese publizistischen Debatten, so der Sprachwissenschaftler Dietz Bering, Autor des Werks "Die Epoche der Intellektuellen", die den Begriff "die Intellektuellen" schnell populär machen.
Dietz Bering: "Sowohl das Schimpfwort 'Intellektuelle' als auch die positiven Seiten. Und auf der positiven Seite stand eben: Sie sind demokratisch, sie sind wissenschaftlich, sie sind nicht egoistisch, sondern sie sind menschheitlich-international gerichtet. Und auf der anderen Seite das Schimpfwort: Das sind die, die kein Vaterland anerkennen; das sind die, die jüdisch unterwandert sind; das sind die Theoretiker."
Zwei Tage nach "J'accuse" veröffentlichen 102 Schriftsteller und Gelehrte die "protestation des intellectuels". Auch sie fordern die Revision des Dreyfus-Urteils. Zola wird verhaftet, verurteilt, freigelassen und erneut verurteilt. Er flieht vorübergehend nach London.
Dreyfus steht 1899 ein zweites Mal vor einem Militärgericht, dessen Urteil nun lautet: zehn Jahre Haft. Nach einigem Zögern begnadigt ihn der neue Staatspräsident Émile Loubet im September 1899. Jahre später annulliert das oberste Berufungsgericht das Urteil. Dreyfus wird rehabilitiert und Mitglied der Ehrenlegion.
Die erste große Intervention der Intellektuellen, durch die zugleich ihr Name berühmt wurde – sie hat Dreyfus gerettet und mittelbar auch die Dritte Republik.
Dietz Bering: "Es war einfach so, dass ja die große Frage anstand, ob Frankreich der erste faschistische Staat oder zumindest faschistoide Staat Europas werden sollte."
Der deutsche Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger Thomas Mann, schwarz-weiß-Aufnahme, Portrait, zur rechten Seite guckend
Der deutsche Schriftsteller Thomas Mann© dpa/picture alliance/Abraham Pisarek

Deutschland: Wettern gegen die "Zivilisationsliteraten"

Frankreich blieb knapp verschont. Die "Action francaise", ein proto-faschistische Bewegung, griff nach der Macht, konnte sie sich jedoch auch wegen der Einmischung der Intellektuellen in der Dreyfus-Affäre nicht sichern - was den Nazis in Deutschland später gelang. Die Wochenzeitung DIE ZEIT stellte im April 1946 einen unmittelbaren Zusammenhang her. Sie titelte: "Die Affäre, die uns leider fehlte ..."
Kaum war der neue Begriff "die Intellektuellen" in Deutschland angekommen, artikulierten sich Vorbehalte und Verdächtigungen. August Bebel, der Mitbegründer der Sozialdemokratie, empfahl auf dem Dresdner SPD-Parteitag 1903:
"Seht Euch jeden Parteigenossen an, aber wenn es ein Akademiker ist oder ein Intellektueller, dann seht ihn Euch doppelt und dreifach an."
Dietz Bering: "Das Furchtbare an der Geschichte des Begriffs 'Intellektueller' und an der deutschen Geschichte überhaupt ist ja, dass die Kräfte, die die deutsche Kultur verteidigen wollten, dass die dann trotzdem nicht sich aufgerafft haben und diesen Intellektuellen-Begriff verteidigt haben. Und die haben sich tatsächlich unter der Rubrik 'deutscher Geist' und 'deutsche Bildung' versammelt."
Exemplarisch: Die "Betrachtungen eines Unpolitischen", Thomas Manns 600-Seiten-Wälzer, in dem er die aggressive Rolle Deutschlands im Ersten Weltkrieg verteidigt. Zwar nutzte Thomas Mann das Wort "intellektuell" in wechselnden Schattierungen, wetterte aber munter gegen die "Zivilisationsliteraten" – damals ein Synonym für "Intellektuelle".
Echtes "Deutschtum" hielt der junge Mann der "Betrachtungen" nur im Zeichen von "Geist" für möglich, nicht von "Intellekt".
"Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur." (Aus: "Betrachtungen eines Unpolitischen")
Was aber war dran am "Geist", dass er zum liebsten Organ gebildeter Deutscher wurde? Der Pazifist und Sozialist Kurt Hiller, der in der Kaiserzeit einer Gruppe mit dem programmatischen Namen "Aktivismus" angehörte, schrieb 1915 in dem Aufsatz "Philosophie des Ziels":
"Die Geistigen – was bedeutet das? Sich verantwortlich fühlen. […] Verantwortlich heißt hier: zur Rechenschaft ziehbar – nicht für das Vergangene, aber für Zukünftiges. Sich verantwortlich fühlen: das Erlebnis seiner Sendung tragen; an der Welt furchtbar leiden; von der Idee, sie zu verbessern, besessen sein […]. Das sind die Geistigen: […] die Tollen des Soll."
"Die Tollen des Soll" - eigentlich ein passendes Etikett für normativ denkende Intellektuelle. Für Hiller jedoch war der Intellektuelle der "bloß formulierend Danebenstehende", dem etwas Entscheidendes fehlte, über das "die Geistigen" angeblich verfügten: den Willen zum Eingreifen.
Zu sehen sind jubelnde Soldaten am Fenster eines Zuges, der sie im August 1914 an die Front des Ersten Weltkrieges bringt.
Mobilmachung im August 1914 in Deutschland: Bayerische Soldaten winken in euphorischem Glauben an einen schnellen Sieg aus den Fenstern eines Zuges, der sie an die Front bringt. © dpa

Berauscht vom Ersten Weltkrieg

Viele kluge Köpfe waren vom Ersten Weltkrieg zumindest anfänglich so berauscht, dass sie für geistige Mobilmachung sorgten. Der Phänomenologe Max Scheler veröffentlichte 1915 das Buch "Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg". Darin heißt es, der Krieg habe "seine Wurzeln im Wesen des Lebens überhaupt".
Als die Begeisterung verpuffte, haben Intellektuelle an dem von Militär und Politikern weiter forcierten Krieg gar nichts geändert. Die Waffen schwiegen erst, als deutsche Frontsoldaten im Herbst 1918 massenhaft kriegsmüde wurden, Befehle verweigerten und desertierten.
Dietz Bering: "Wenn man die Kräfte auf die Waagschale legt, dann muss man tatsächlich sagen: Die Intellektuellen, Max Weber zum Beispiel, Ernst Troeltsch, die dann hinterher sich weggewendet haben von ihrer anfänglichen Begeisterung auch für den Krieg, die waren in beängstigender und fast beschämender Minderheit."
Es ließe sich vermuten, mit der ersten deutschen Demokratie 1918/19 wäre die Stunde der Intellektuellen gekommen. Denn die Weimarer Republik wurde von Kommunisten und Nationalsozialisten angefochten, sie war in der Mitte instabil. Wer sollte Liberalismus und Freiheit schützen, wenn nicht die Intellektuellen? Aber: Von wegen! Während Adolf Hitler nach und nach Massen an sich zog, blieben kluge Verteidiger der Demokratie vereinzelte Gestalten.
Immerhin, es gab sie. "Wächter zu sein in einer sonst allzu finsteren Nacht" – darin sah der Soziologe Karl Mannheim die Aufgabe der "freischwebenden Intelligenz", die als enger Begriffs-Verwandter der "Intellektuellen" gelten kann. Der Romanist Ernst Robert Curtius betitelte 1932 ein Buch wie einen Alarmschrei: "Deutscher Geist in Gefahr!"
Wieder: dieser deutsche Geist! - Und was taten Mannheim und Curtius, als die Republik schon wankte? Sie stritten sich mit eben der Unversöhnlichkeit, die sie an den deutschen Verhältnissen kritisierten.
Mannheim kämpfte im Zeichen der Zivilisation für liberalen Rationalismus. Curtius appellierte im Zeichen der Kultur für die Tradition und beschwor sinnstiftende Vergangenheiten. Er bezichtigte Mannheim, im "Wolkenkuckucksheim" zu schweben und wollte zur Bewältigung der Krise die Geistesaristokratie in die Pflicht nehmen.

Feldzug gegen Intellektuelle

Ernst Robert Curtius: "Das intellektuelle Wissen der europäischen Elite muss von sich aus Abhilfe schaffen, ehe ein revolutionärer Moloch unsere Bibliotheken in Brand steckt oder ein neuer Attila unsere Felder verwüstet."
In der Tat: Ein neuer Attila verwüstete nicht nur Felder.
Rosenberg: "Fortgeräumt ist der ganze blutlose intellektualistische Schutthaufen",
... triumphierte der führende NSDAP-Ideologe Alfred Rosenberg 1933.
Goebbels: "Das Wunder eines Volkes liegt nie im Hirn, immer im Blut",
… behauptete der NS-Propagandaminister Joseph Goebbels, in dessen Intellektuellen-Verachtung sich bezeichnenderweise furchtsamer Respekt mischte.
Goebbels: "Jede wahrhaft sozialistische Bewegung – also auch die nationalsozialistische – hat einen Todfeind: den Intellektualismus, das Literaten-Gesindel!"
Die Nationalsozialisten beließen es nicht beim Schimpfen. Sie vertrieben die Intellektuellen; deshalb entstand 1936 in New York die Exil-Akademie. Sie verhafteten und ermordeten sie. Oder sie zwangen sie in die innere Emigration. Bücher brannten.
In Bertold Brechts "Alfabet für Kinder" heißt es unter dem Buchstaben D:
"Die Dichter und Denker
Holt in Deutschland der Henker."
Und Martin Heidegger, Carl Schmitt, Gottfried Benn, Arnold Gehlen? Ihre Teilzeit-Sympathie für den NS-Staat wirft die Frage auf, ob es Rechts-Intellektuelle überhaupt geben kann. Nein, haben Links-Intellektuelle oft geantwortet; denn innere Kollaboration mit der Macht, erst recht, wenn sie braun ist, widerspreche dem Status "Intellektueller".
Mittlerweile ist das Nein verklungen. Spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015 und dem Aufstieg der AfD ist hierzulande die Rede von "Rechts-Intellektuellen" geläufig geworden; manche zählen Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk dazu.
Man könnte sagen: "Intellektuelle entwickeln durch Ideenbildung und Reflexion griffige Maßstäbe zur Beurteilung der Wirklichkeit." Wenn man den Begriff des Intellektuellen so abstrakt definiert, dann sind grundsätzlich Linke wie Rechte berufen.
Linke stehen der Titulierung als Intellektuelle näher, soweit ihr Selbstverständnis auf vernunftgeleiteter Anerkennung der Gleichheit aller Menschen gründet. Rechte stehen umso ferner, je stärker sie ihr politisches Denken an der Verschiedenheit der Menschen orientieren und zur Begründung nicht-rationale Kategorien heranziehen.
Heinrich Böll, Ilse Aichinger und Günther Eich 1952 während der Tagung der Gruppe 47 (v.lks). 
Heinrich Böll, Ilse Aichinger und Günther Eich 1952 während der Tagung der Gruppe 47 (v.lks). © picture alliance / dpa

Alte Reflexe nach 1945

Auch nach 1945 zuckten angesichts der vollkommenen Katastrophe noch kurz alte Reflexe. Der Historiker Friedrich Meinecke schlug vor, Goethe-Gemeinschaften zu bilden und sonntags in Kirchen Rezitations-Veranstaltungen abzuhalten:
"Die Orte, wo wir uns seelisch wieder anzusiedeln haben, sind uns gewiesen. Sie heißen Religion und Kultur des deutschen Geistes."
Andere wandten sich der Zukunft zu. "Merkur", "Der Monat", die "Frankfurter Hefte" hießen die Zeitschriften, in denen um die Bedeutung von "Geist" und "Intellekt" nach der totalen Katastrophe gestritten wurde.
1950 organisierte der Herausgeber des "Monat", Melvin Lasky, einen "Kongress für kulturelle Freiheit", später zum "Weltparlament der Intellektuellen" geadelt. Fünf Merkmalen sollte der Intellektuelle genügen, hat Dietz Bering paraphrasiert.
"1. kritisch [sein], ein- und angriffswillig der politischen Wirklichkeit zugewandt,
gleichwohl aber 2. frei von jedem parteipolitisch-weltanschaulichen Gängelband,
frei auch 3. von den begrenzten Perspektiven der Spezialisten,
4. an gefahrvoller Stelle postiert und
5. als Ziel vor Augen: sowohl […] eine 'gerechte Ordnung der Menschheit' als auch […] die 'Sache der Freiheit als niemals aufzuhebende Grundbedingung."
Allmählich gewann der Begriff "Intellektueller" an Ausstrahlung und wurde zu einer attraktiven Selbstbeschreibung für Gehirnarbeitsmenschen, etwa für Max Frisch, von der ZEIT im Rückblick als "Der hundertprozentige Intellektuelle" gefeiert.
Eugen Kogon, der noch im KZ Buchenwald sein Werk "Der SS-Staat" angefangen hatte, prägte mit Blick auf die Intellektuellen diese Kurzformel:
"Es muss Menschen geben, die mit äußerster Hingebung das Ganze als Ganzes sehen, es im Bewusstsein halten, es aussprechen. Es ist der Schriftsteller publizistischer Prägung, der das unternimmt."
Auch die Gruppe 47 war nach dieser Definition ein Intellektuellen-Club. Zum 15-jährigen Bestehen benannte der Organisator Hans-Werner Richter die "ideellen Ausgangspunkte" der Gruppe, die ohne Regelwerk auskam – nämlich "demokratische Elitenbildung" in der Absicht, "die praktisch angewandte Methode der Demokratie [...] zu demonstrieren".
Die am 13. Oktober 1977 auf dem Flug von Mallorca nach Frankfurt/Main von vier Terroristen entführte Lufthansa Maschine "Landshut" auf dem Flughafen von Mogadischu. Fünf Besatzungsmitglieder und 82 Passagiere befinden sich in der Gewalt der Terroristen. Mit der Aktion sollen elf Angehörige der Rote Armee Fraktion (RAF) aus deutscher Haft sowie zwei in der Türkei festgehaltene Palästinenser freigepresst werden. | Verwendung weltweit
Entführte "Landshut" in Mogadischu© A0009_dpa

Deutschland und die langsame Demokratisierung

Die Gruppe 47 wurde ein Lieblingsobjekt des Kulturjournalismus und selbst Gegenstand der Kritik – ein symptomatischer Prozess für die 50er-Jahre. Intellektuelle wie Walter Jens etablierten sich als öffentliche Figuren, was die Öffentlichkeit zugleich als demokratische Institution stabilisierte.
In der Spiegel-Affäre 1962 zeigte sich: Die Deutschen ließen sich nicht mehr durchregieren, sie entfalteten Gegendruck. Der Artikel "Bedingt abwehrbereit", eine Kritik am Zustand der Bundeswehr, rief Bundeskanzler Konrad Adenauer auf den Plan.
"Wir haben einen Abgrund von Landesverrat im Lande!"
"Wer sagt das?"
"Ich sage das!"
Mehrere Spiegel-Autoren und Herausgeber Rudolf Augstein kamen zwar kurzzeitig ins Gefängnis. Doch am Ende siegte der Protest gegen den Angriff auf die Pressefreiheit und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß musste gehen. Es war Westdeutschlands Dreyfus-Affäre, auch ohne einen neuen Zola an der Spitze des Widerstands. Sichtbar wurde, dass Intellektuelle zu den engagierten Hütern der jungen Demokratie gehören.
Und dennoch: "Der Intellektuelle" ist, alles in allem, ein Phänomen ohne restlos gesicherten Substanzkern. War die Studentenbewegung intellektuell? Von außen gesehen: ja! Nur wollten viele 68er auf keinen Fall "bürgerliche Intellektuelle" sein. Ihre Abneigung stand in der Tradition linker Intellektuellen-Verachtung, die von Lenin bis Che Guevara reicht. Rudi Dutschke wäre zur Gattung der anti-intellektuellen Intellektuellen zu zählen – einfacher ist die Begriffslage nicht.
Tagesschau: "Eine Linienmaschine der deutschen Lufthansa ist seit dem Nachmittag in der Gewalt von Entführern. Die Maschine vom Typ 737 City Jet war auf dem Weg von Palma de Mallorca nach Frankfurt. An Bord sind 86 Passagiere, überwiegend Urlauber, und die fünfköpfige Besatzung."
RAF-Terroristen hatten Arbeitgeber-Präsident Schleyer entführt, um inhaftierte Terroristen freizupressen. Danach hatten palästinensische Terroristen den Lufthansa-Jet "Landshut" in ihre Gewalt gebracht. Stürmen oder nicht? Der Erpressung widerstehen, aber Menschenleben riskieren? Vor solchen Fragen stand die Bundesregierung. Da suchte Bundeskanzler Helmut Schmidt am 16. Oktober 1977 nach Rat außerhalb der Politik. Er lud den Verleger Siegfried Unseld und die Schriftsteller Heinrich Böll, Siegfried Lenz und Max Frisch ins Kanzleramt ein.
Dietz Bering: "Dass Helmut Schmidt ein großer Staatsmann ist, sieht man eben daran, dass er zuerst, als er sein erstes Kabinett machte, sagte: 'die Intellektuellen, die habe ich alle rausgeschmissen' – aber hinterher, wenn's auf des Messers Schneide steht, er doch weiß, welche Kräfte da sind, die ihm die Beantwortung dieser ganz ungeheuerlichen Frage, ob man nun 'Angriff' sagen soll oder ob man sagen soll: 'besser nicht, es sind zu viele Menschenleben, die dabei drauf gehen können'. Da hat er eben einfach Format bewiesen."
Der Soziologie-Professor Theodor Adorno am 28.05.1968 während eines Vortrags im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main.
Der Soziologe Theodor W. Adorno© dpa/ picture-alliance / Manfred Rehm

Von Adorno bis Habermas

Über Jahrzehnte prägten markante Intellektuellen-Typen die öffentlichen Diskurse in der Bundesrepublik. Theodor W. Adornos "Kritische Theorie" munitionierte linke Kapitalismuskritiker. Adorno selbst, dem es nie genug sein konnte, schwang sich zum Kritiker der handelsüblich gewordenen Kritik auf und warnte 1969:
"Nach wie vor waltet in Deutschland Identifikation mit der Macht; darin lauert das gefährliche Potential, mit Machtpolitik nach innen und außen sich zu identifizieren."
Günter Grass unterhielt eine feste Beziehung zur Sozialdemokratie und sang "ein Loblied auf Willy", den späteren Kanzler Brandt. Vor allem etablierte sich Grass äußerst selbstbewusst als moralisierender Intellektueller. 2015 rief ihm die Tageszeitung "Die Welt" in seltener Freundlichkeit nach:
"Mit dem Tod von Grass endet die Ära des typischen Intellektuellen der alten Bundesrepublik, der oft irrte, nervte, aber wichtig war. Ihn brauchen wir genauso wie früher."
Jürgen Habermas war und ist der Wissenschaftler als öffentlicher Intellektueller par excellence. Er bekannte offenherzig, es sei "die Reizbarkeit, die Gelehrte zu Intellektuellen macht" und schrieb ihnen einen "avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen" zu. Habermas wurde zum Meisterdenker der großen deutschen Debatten.
Im Rückblick erscheinen die 60er- und 70er-Jahre als die Zeit, in der die Intellektuellen und die westdeutsche Öffentlichkeit mitsamt der linken "Gegen-Öffentlichkeit" die engste Verbindung eingingen. Nicht wenige nehmen noch heute Maß an dieser Epoche, wenn sie über Intellektuelle reden.
Ein Resümee darf man ziehen: Die Intellektuellen alter Schule war in der Kampfzone zu Hause, Harmoniesucht gehört nie zu ihren Lastern.
1983 veröffentlichte der Philosoph Jean-François Lyotard in der französischen Zeitung Le Monde ein "Grabmal des Intellektuellen". Hauptthese: Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen sei nicht zu trennen von der "allgemein geteilten Idee eines universellen Subjekts", bekannt auch als "die Menschheit"; doch eine solche Idee werde in postmodernen Zeiten nicht mehr geteilt. Intellektueller Universalismus à la Émile Zola und Jean-Paul Sartre, so Lyotard, sei anachronistisch.

Die Intellektuellen und der Medienwandel

Lyotards Kollege Jean Baudrillard behauptete, die Intellektuellen seien "von der Mediengesellschaft verschlungen" worden.
Sofern der Intellektuelle ein Buch- und Textwesen gewesen war, war der Medienwandel seine Nemesis. Der Soziologe Dirk Baecker behauptete 1998, der Intellektuelle beginne "Opfer des Abschieds vom 'Prinzip Buchdruck' zu werden".
Dirk Baecker: "Heute weiß sich das Publikum nicht mehr darin einig, dass es lesen kann, sondern darin, dass es Bilder gesehen hat. Bilder funktionieren jedoch ganz anders als Text. Die vom Buchdruck gestiftete Symbiose zwischen Texten, Intellektuellen und Publikum funktioniert nicht mehr."
War's das? Hat sich die gesellschaftlich stets umstrittene Figur des Intellektuellen überlebt? Hat der Medienwandel – Stichwort: digitale Revolution – das vollstreckt, was die Postmoderne philosophisch ausgeheckt hatte?
Als der Soziologe Pierre Bourdieu, der die Intellektuellen als "kritische Gegenmacht" im Dienste demokratischer Ideale mit Verve verteidigte hatte, im Jahr 2002 gestorben war, lästerte der Schriftsteller Michel Houellebecq:
"Nein, Bourdieus Tod ist kein großer Verlust."
Houellebecqs' Invektive erschien in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, der Schwester der FAZ. Deren Mit-Herausgeber Frank Schirrmacher kultivierte indessen einen neuen Typus des Intellektuellen – den Medien-Intellektuellen.
Das Feuilleton der FAZ blieb ein Austragungsort klassischer intellektueller Kritik, allerdings änderte sich der Hauptgegenstand: Die digitalen Technologien samt der Abschätzung ihrer Folgen wie auch die Rolle der Welt-Konzerne, des Staates und der Geheimdienste im Zeichen der Datenströme rückten in den Mittelpunkt.
Angesichts der Dynamik des technologischen Wandels drohen dessen Kritiker notorisch zu spät zu kommen. Laut Jeanette Hofmann, Direktorin des Alexander von Humboldt-Instituts für Internet und Gesellschaft, ist der Intellektuelle deshalb immerzu Zerreißproben ausgesetzt.
Jeanette Hofmann: "Der muss einerseits sehr dicht dran sein, um diese ganzen Veränderungen überhaupt sehen und bedenken zu können. Andererseits soll er sich ja auch wieder rausziehen, um den großen Blick auf diesen Wandel zu werfen."
Das Logo der Republica, das mit Doppelpunkt geschrieben wird und sich re:publica liest.
Die re:publica 2017 in Berlin© Britta Pedersen / dpa-Zentralbild

Die Verachtung der Sozialen Medien

Mit den Sozialen Medien haben sich fern der vertrauten Massenmedien neue Formen privat-öffentlicher Kommunikation weltweit etabliert. Und sind als solche zum Gegenstand intellektueller Verachtung geworden.
Bering: "Pissecke".
Andererseits war noch jeder Medienwandel intellektueller Verdächtigung ausgesetzt, angefangen bei Platon, der die Schrift zum leblosen Abbild beseelter Mündlichkeit herabgewürdigt hat. Die Kulturwissenschaftlerin Mercedes Bunz verweist auf die Beständigkeit des beliebtesten Stereotyps intellektueller Medien-Kritik.
Mercedes Bunz: "Von Alexander Kluge bis Pierre Bourdieu – sehr viele Leute haben sich damit auseinandergesetzt, wie das Fernsehen die Gesellschaft verdummt und vereinfacht. Dieses Thema der Verdummung zieht sich vom Fernsehen bis heute zu den sozialen Medien."
Ob während der jüngsten re:publica, dem Kongress des Chaos Computer Clubs, auf der Digitalmesse Media Convention, in den Feuilletons oder den philosophischen Zeitschriften: Der Algorithmus, definiert als Menge von Einzelschritten zu einer Problemlösung, ist in aller Munde. Denn Algorithmen gelten als die Elementarteilchen der Macht, die Konzerne wie Google und Facebook über Datenströme und damit auch über die Nutzer gewonnen haben.
Aber selbst in diesem heiklen Punkt mahnt Jeanette Hofmann, die ihren Twitter-Stream gern kuratiert, nicht in intellektuellen Gram zu verfallen.
Jeanette Hofmann: "Wir haben auf der anderen Seite auch jede Menge Freiheit gewonnen dadurch. Man darf nicht unterschätzen, was es bedeutet, wenn jeder Bürger selbst sprechen kann und sich auch seine Öffentlichkeiten schaffen kann. Das, finde ich, ist schon ein enormer Gewinn. Und der wird in dieser Klage über die algorithmische Intransparenz - wird dieser Freiheitsgewinn häufig übersehen."
Dietz Bering, der den Klassiker zur Geschichte der Intellektuellen geschrieben hat, kann über die neue Freiheit nur spotten.
Dietz Bering: "Jetzt ist alles wunderbar. Es gibt ja nichts, was demokratischer ist als das Netz. Da kann ja jeder reinmachen, was er will. Aber, wenn man sagt, Essenz der Demokratie ist eben, dass die Menschenwürde da realisiert werden soll, dann hat man ja eine Norm, an die man sich irgendwie halten oder an der man sich messen muss."

Bedrohung durch künstliche Intelligenz?

Hier jedoch schließt sich ein Kreis. Denn auch die Intellektuellen des digitalen Zeitalters sorgen sich um die Essenz der Demokratie. Jeanette Hofmann und andere haben eine "Charta der digitalen Grundrechte für die Europäische Union" erarbeitet.
Jeanette Hofmann: "Die Frage, die wir uns in diesem Kontext gestellt haben, ist, ob Menschenrechte, wie wir sie vor der digitalen Zeit kannten, angemessen unsere Rechte schützen in Zeiten, wo sich die Arbeitsteilung zwischen Technik und Menschen und auch unser Menschenbild immer weiter entwickeln."
In "Origin", dem neuen Roman von Dan Brown, heißt einer der Protagonisten "Winston". Es handelt sich um keinen Menschen aus Fleisch und Blut, sondern um eine Künstliche Intelligenz – zwar im Computer gefangen, aber in Gedanken frei und selbstreflexiv, bisweilen geradezu intellektuell.
Ist das die Zukunft? Werden künstliche Systeme durch maschinelles Lernen auch die Kopfarbeit der verbliebenen Intellektuellen übernehmen? Mercedes Bunz winkt vorläufig ab.
Mercedes Bunz: "Natürlich kann man auch diskurskritisch irgendwelche Argumente künstliche Intelligenz diskutieren lassen. Aber ist das wirklich das, was wir wollen? Wollen wir nicht, dass die künstliche Intelligenz das macht, worin wir schlecht sind und was für uns langweilig ist? Ist das nicht viel besser?"
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