"Eldorado"-Regisseur Markus Imhoof

"Das Erste ist, dass es um Menschlichkeit geht"

Eldorado-Protagonist Akhet Téwendé (v.l.n.r.), Regisseur Markus Imhoof und Eldorado-Protagonist Raffaele Falcone.
Eldorado-Protagonist Akhet Téwendé (v.l.n.r.), Regisseur Markus Imhoof und Eldorado-Protagonist Raffaele Falcone. © Maurizio Gambarini/dpa
Markus Imhoof im Gespräch mit Patrick Wellinski · 21.04.2018
Der Ist-Zustand Europas werde sich durch die Geflüchteten zwangsläufig verändern, meint Markus Imhoof. Das sei auch richtig, so der Regisseur. Für seinen Film "Eldorado" hat er die Mare-Nostrum-Mission zur Seenotrettung begleitet.
Patrick Wellinski: Markus Imhoof hat mit seinen Dokumentarfilmen Schweizer Filmgeschichte geschrieben. "More than Honey" zum Beispiel über das weltweite Bienensterben ist bis heute der erfolgreichste Schweizer Dokumentarfilm aller Zeiten. Schon 1981 wurde er für den Oscar nominiert für "Das Boot ist voll" – ein sehr kritischer Blick auf die Schweizer Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkrieges. Fast 40 Jahre später blickt Imhoof mit seinem neuesten Werk "Eldorado" erneut auf eine Flüchtlingsbewegung, und wieder lässt ihn die Vergangenheit nicht los.
"Eldorado", der nächsten Donnerstag in unsere Kinos kommt, beobachtet zum Beispiel die Mare-Nostrum-Mission im Mittelmeer. Er zeigt auch die Ausbeutung der Flüchtlinge durch die italienische Mafia und die restriktive Flüchtlingspolitik der Schweiz. Und immer wieder kehrt Markus Imhoof zu einem Dialog mit Giovanna wieder, diesem Mädchen von damals. Deshalb war meine erste Frage an ihn, als den Regisseur vor der Sendung sprechen konnte: Herr Imhoof, wer war denn eigentlich Giovanna?
Markus Imhoof: Giovanna war ein Mädchen, das ich mit meiner Mutter am Güterbahnhof in Winterthur ausgesucht habe. Da sind wir während des Kriegs ein Flüchtlingskind holen gegangen, so wie im Hundeheim, und ich wollte eigentlich lieber einen Bruder, und wir haben dann die Giovanna gekriegt, die ich nicht mal verstand. Das heißt, ich musste zuerst Italienisch lernen, und diese Annäherung war aber eigentlich für mich ein entscheidendes Erlebnis fürs ganze Leben eigentlich.
Wellinski: Sie entspinnen jetzt in "Eldorado" einen Dialog mit Giovanna im Off, das ist der Rhythmusgeber dieses Dokumentarfilms. Damit spannen Sie ja nicht nur eine biografische Brücke, wie Sie sie gerade erzählt haben, sondern auch eine filmhistorische Brücke, denn in Ihrem Film von 1981, "Das Boot ist voll", schilderten Sie schon diese restriktive Schweizer Flüchtlingspolitik zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs. Jetzt blicken Sie ja auf die aktuelle Flüchtlingsbewegung, nach Europa. Was hat Giovannas Flüchtlingserfahrung mit der Flüchtlingserfahrung der Boat-People von heute zu tun?
Imhoof: Der Kern von den beiden Geschichten ist eigentlich das Fremde, das in einen anderen Ort kommt und das in dem Fall von Giovanna mit Empathie empfangen wird und auch etwas auslöst, sogar mein Leben verändert. Und in den heutigen Boat-Peoples ist es in vielen Fällen eigentlich das Gegenteil, dass man sie abwehrt. Also das Boot ist voll, heißt ja, wenn noch einer kommt, sinken wir alle, also die sind schuld, wenn wir untergehen. Und jetzt sind die Boote wirklich voll, und jetzt heißt es, Europa ist voll, und gleichzeitig überall vergreisen wir und machen zu wenig Kinder. Also dieser Widerspruch ist das, was mich interessiert hat an dieser Geschichte, und die die wollte ich eigentlich provozieren mit dieser Geschichte, wo es eigentlich gegangen wäre, wenn der Staat nicht eingegriffen hätte und diese Giovanna-Geschichte zu einer Romeo-und-Julia-Geschichte gemacht hat, die dann auch traurig geendet hat.

Der "Gartenzaun" um Europa ist längst gebaut

Wellinski: Ist diese große Geschichte über die vielen Flüchtlingsbewegungen nicht auch ein Beispiel für History Repeating – es wiederholt sich de facto etwas –, aber auch die Unfähigkeit von uns, letztendlich zu lernen aus der Vergangenheit?
Imhoof: Während des Kriegs hieß es in der Schweiz, Flüchtlinge nur aus Rassengründen gelten nicht als Flüchtlinge, und es sind 23.000 jüdische Flüchtlinge, die gerettet wurden in der Schweiz, sind zurückgeschickt worden in den Tod. Dann hat man nach dem Krieg eine Flüchtlingsdefinition gemacht der Vereinten Nationen, wo jetzt rassisch Verfolgte und die ganzen Verfolgungsgründe genauer genannt sind, das ist eigentlich eine starke Verbesserung der Flüchtlingssituation. Und jetzt sind aber die sogenannten Migrationsflüchtlinge, also die Wirtschaftsflüchtlinge, die Migranten, die kommen nicht vor in der UNO-Konvention, aber die Gründe, die Fluchtgründe für diese Migration sind ja von uns zum Teil provoziert. Unsere Wirtschaftsabkommen mit Afrika machen, dass die keine Lebensgrundlage haben, und treiben sie eigentlich weg vom Land, und dann kommen sie zu uns. Also diese Zusammenhänge sind neu, aber das Prinzip ist eigentlich immer dasselbe gewesen: Seit 180.000 Jahren kommen Leute aus Afrika – also wir alle waren mal Afrikaner, und das ist vielen nicht bewusst. Natürlich, wenn dann Rousseau sagt, der Erste, der einen Gartenzaun um sein Haus gebaut hat und genug dumme Leute gefunden hat, die das geglaubt haben, das ist meins, der hat die bürgerliche Gesellschaft erfunden. Und natürlich ist der Gartenzaun gebaut hier in Europa, und der Ist-Zustand soll sich scheinbar nicht mehr verändern, aber er wird sich natürlich verändern, weil Evolution ist eigentlich die Basis von Leben. Und das ist genau das, was uns natürlich Angst macht, weil diese Energie, die in dieser Migration ist, ja aus Existenznot entsteht. Die ist ein derartiger Kontrast zwischen dem gepamperten Leben, was wir hier haben, für alles ist gesorgt. Und dieser Konflikt, den gilt es zu lösen.
Wellinski: Eldorado, das ist ja dieses mythische Goldland, das ist ja Europa für die Flüchtlinge, und sie gehen dorthin, wo diese Träume letztendlich mit der Realität konfrontiert werden. Das sind so zwei Stellen: Die eine, das ist natürlich der Moment, wenn diese Boote von den größeren europäischen Booten gefunden werden. Sie sind mit der Kamera bei einem Schiff der Mare-Nostrum-Mission, das ist sehr intensiv, Sie sind dabei, wenn diese Boote erst mal gesichtet werden, dann werden sie reingeholt. Kann man sich auf solche Dreharbeiten überhaupt auch emotional vorbereiten? Wie sind Sie da eigentlich mit der Kamera hingekommen, haben Sie auch das gesehen und erlebt, was Sie erwartet haben, oder ist das so eine Ausnahmesituation, die es schwer vorab zu planen gilt?

Auslöser für den Film

Imhoof: Ich war vorher in Griechenland auf zwei Schiffen der Frontex und war da in einem Einsatz mit einem Schnellboot, einem portugiesischen Schnellboot in Samos, dem dann ein Flüchtlingsboot ausgewichen ist, und da sind 23 Leute ertrunken. Und das war eigentlich der Auslöser, dass ich diesen Film machen musste, weil ich gleichsam wie mitbeteiligt war, dass das passiert ist. Natürlich stellt man sich immer etwas vor, und dann, wenn der Einsatzalarm wirklich kommt, geht's einerseits darum, dass man selber nicht ins Wasser fällt, weil da ist zum Teil keine Reling an dem Schiff, man kann sich nur innen festhalten, und auf der anderen Seite will man natürlich sehen, was passiert, und man ist hilflos, weil man selber nicht helfen kann, auch nicht helfen darf. Diese Distanz, die es braucht, und trotzdem die Genauigkeit des Schauens, das war eigentlich die Aufgabe, und das Denken kommt dann eigentlich erst nachher in der Nacht, wenn man da in der Kabine liegt und mit dem Offizier, mit dem man die Kabine teilt, darüber spricht und er, der schon jahrelang dabei ist, davon erzählt, dass man das dann versucht zu verdauen. Belastend ist natürlich, wenn man dann zu den Flüchtlingen heruntergeht im Schiff – wir mussten uns ja immer in diese Ebola-Anzüge kleiden und trugen eine Maske, also wir waren die Aliens, die dann die Fremden besucht haben. Das ist schon irgendwie wie eine Landung auf einem anderen Stern.
Wellinski: "Eldorado" verfügt über unglaubliche Bilder, aber es sind ja auch Bilder über ein großes Elend, und ich frage mich, bei Dokumentarfilmen, die eben zum Teil in diese Flüchtlingsbewegung hineingehen, inwiefern man da eine gewisse bildethische Idee mit reflektieren muss, was das Medium Film ja sowieso mit sich bringt, denn die Frage muss ja auch sein: Mache ich irgendwann eine Überschreitung zum Voyeurismus hin, machen wir schöne Bilder vom schlimmen Elend? Wie sind Sie mit diesen Konflikten umgegangen?
Imhoof: Der Film hat ja einen europäischen Blick auf das Ganze. Es zeigt die Maschinerie, durch die die Flüchtlinge gehen, und es war wichtig, dass die Menschen nicht ausgestellt werden, aber dass man genau sieht, was passiert und was mit ihnen passiert. Zum Beispiel im Getto in Italien, in diesem Mafiagetto, da war gar keine Möglichkeit, ein schönes Bild zu machen, da mussten wir schauen, dass wir überleben eigentlich. Wir sind schon verprügelt worden, als wir reingingen. Mit der versteckten Kamera musste man irgendwie schauen, dass man heil wieder rauskommt. Da haben wir versucht, möglichst keine Gesichter zu zeigen. Wichtig war im Ganzen, dass es kein Armutsporno wird, dass es diesen Respekt hat gegenüber den Menschen, aber trotzdem nichts beschönigt oder dass man sich nicht selber zensiert, aber nicht, dass man jetzt drin badet.
Wellinski: Sehen Sie das eigentlich so, dass diese Bilder dann auch Empathie erwecken können? Ich musste da zum Beispiel auch an Susan Sontags Essay denken, "Das Leiden anderer betrachten", wo sie ja diese Frage aufstellt: Stumpfen uns diese Bilder ab oder werden sie eben diese Möglichkeit der Empathie erzeugen?
Imhoof: Meine Hoffnung ist natürlich, dass sie Empathie erzeugen. Wenn man sieht, unter welchen Umständen die Menschen leben müssen, gerade zum Beispiel in einem Getto, wenn man sieht, wie verboten es ist, das zu filmen, dann kommt mir natürlich dieser Bundesgerichtsentscheid über das illegale Filmen von Elend von Hühnern in den Sinn, wo das Bundesgericht sagt, das ist zulässig, das zu filmen, weil es gibt ein öffentliches Interesse und es ist wichtig, dass man das sieht und darüber spricht.

Abschreckung gehört zur Flüchtlingspolitik

Wellinski: Sie blicken auch auf die aktuelle Flüchtlingspolitik der Schweiz, können Sie auch sehr gut vergleichen mit der Schweizer Flüchtlingspolitik, die Sie ja schon in "Das Boot ist voll" porträtiert haben. Es hat sich nicht viel geändert, oder?
Imhoof: Die Abwehrhaltung ist eigentlich dieselbe geblieben, also in den schönsten Landschaften wohnen die Flüchtlinge in Bunkern unter der Erde, und das Ziel ist eigentlich, dass die nicht glückliche WhatsApp-Nachrichten nach Hause schicken, weil dann kommen noch mehr. In Italien schießen die Bauern manchmal eine Krähe und hängen sie über den Hühnerhof, damit die anderen Krähen nicht kommen und auch noch Küken fressen. Und dieses Abschrecken ist die oberste Oberfläche dieser Flüchtlingspolitik, die darunter einen humanistischen und humanen Ansatz hat, aber es darf nicht zu gut gehen, sonst ist es Werbung.
Wellinski: Herr Imhoof, was bleibt denn jetzt? Also Ihr Film hat mich auf so unterschiedliche Arten berührt, aber am Ende war da zuerst Wut, und dann wich diese Wut bei mir einer gewissen Resignation. Was bleibt denn jetzt?
Imhoof: Ich kann jetzt da nicht einfach einen Schlusstitel setzen und sagen, macht jetzt das, dann ist alles gut. Ich glaube, es ist wichtig, dass man diese Tragik eigentlich mal zeigt, also diese ganzen Widersprüche, und wir haben uns beim Schneiden oft gedacht, wie können wir es nicht sagen, aber provozieren, dass der Zuschauer, wenn er aus dem Kino kommt und ein Glas Wein trinkt, diskutiert, und in welche Richtung soll er diskutieren. Und ich glaube, das Erste ist, dass es um Menschlichkeit geht, und es gibt zwei Seiten: Einerseits kann jeder irgendetwas tun – wenn er will, sieht er einen Flüchtling und könnte da schauen, ob er dem vielleicht ein bisschen Deutschstunden gibt oder mal seinen Kleiderschrank anschauen, was da alles hängt seit Jahren. Auf der anderen Seite muss man aber auch weltpolitisch etwas ändern, und das kann man nur durch die demokratische Beteiligung, dass man wählen geht und Menschen wählt, denen nicht das Geld das Oberste ist, sondern eine Vision von Menschlichkeit auf der ganzen Welt. In der Schweiz gibt es jetzt eine Initiative, die heißt Konzernverantwortungsinitiative, die fordert, dass die Standards, menschenrechtlichen und ökologischen Standards, die in der Schweiz gelten, auf der ganzen Produktionskette angewendet werden müssen. Es ist wichtig, dass man diese Diskussion führt, und vielleicht kriegt man eines Tages auch hin, dass der Kolonialismus vielleicht doch überwunden wird.
Wellinski: "Eldorado" ist auf jeden Fall ein guter Einstieg in diese Diskussion, ein Film, der wirklich die Augen öffnet. Der Regisseur Markus Imhoof war unser Gast. Vielen Dank für den Besuch und für den Film und für Ihre Zeit!
Imhoof: Danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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