Eisiger Frühling zwischen Damaskus und Aleppo

Von Kristin Helberg · 23.06.2011
In Syrien von einem arabischen Frühling zu sprechen, wäre zynisch - auch wenn dort der Aufstand der Menschen gegen die staatliche Willkür zu Beginn des Frühjahrs losbrach. Zu brutal gehen die Sicherheitskräfte des Regimes unter Präsident Bashar Al-Assad gegen die Demonstranten vor. Dabei galt der Präsident als Hoffnungsträger, als er vor elf Jahren das Amt von seinem Vater übernahm; als derjenige, der das Land politisch und wirtschaftlich in eine liberalere Zukunft führen sollte.
Damaskus´ zentrales Einkaufsviertel Shaalan. "Gott, Syrien, Freiheit und sonst nichts!" rufen einige Dutzend Demonstranten und marschieren ungerührt an den Schaufenstern westlicher Modeketten vorbei. Ahnungslos bummelnde Frauen bleiben verängstigt stehen, Ladenbesitzer verfolgen die Szene von den Türschwellen ihrer Geschäfte aus. In ihren Augen liegt Panik, denn sie alle wissen, was folgt: Nach wenigen Minuten treiben Sicherheitskräfte in Zivil die Demonstranten auseinander, verfrachten sie unter Prügel in Minibusse und bringen sie weg. Wohin, daran mag niemand denken. Denn wer es wagt, im Herzen der Hauptstadt gegen Präsident Bashar Al Assad zu rebellieren, wird mit Sicherheit in einer Zentrale des Geheimdienstes landen, in denen laut Menschenrechtsgruppen systematisch gefoltert wird.

Solche Mini-Proteste in den Zentren von Damaskus und Aleppo sind selten, normalerweise herrscht hier eine angespannte Ruhe.

Auf den ersten Blick scheint das Leben in den beiden größten Städten des Landes seinen gewohnten Gang zu gehen. Die Menschen arbeiten, die Läden sind geöffnet, der Verkehr staut sich.

Erst auf den zweiten Blick sind die Geheimdienstmitarbeiter an jeder Ecke zu erkennen, die das kleinste Aufbegehren im Keim ersticken sollen. Und erst im Gespräch mit den Bewohnern wird deutlich, wie tief das Misstrauen der Menschen untereinander geworden ist. Über die aktuellen Ereignisse redet in der Öffentlichkeit kaum jemand, bei der Arbeit tun die Damaszener so, als sei nichts passiert. Nur im engsten Familien- und Freundeskreis trauen sie sich zu sagen, was sie wirklich denken.

Suheir Al Atassi nimmt kein Blatt mehr vor den Mund, die zierliche blonde Frau ist an Verfolgung gewöhnt. Jahrelang veranstaltete sie in ihrer Wohnung ein politisches Diskussionsforum, bis der Geheimdienst die Treffen verbot. Gleich zu Beginn der Proteste war Atassi verhaftet worden, nun ist sie wieder frei und abgetaucht. Aus ihrem Versteck berichtet sie dem arabischsprachigen Radiosender Monte Carlo über die anhaltenden Festnahmen.

"Es gibt Familien, in denen anstelle der gesuchten Aktivisten deren Mütter, Kinder oder Geschwister verhaftet werden. Sie nehmen sie als Geiseln, weil die gesuchte Person untergetaucht ist. So weit ist es gekommen. Die syrische Gesellschaft besteht inzwischen aus Märtyrern, Verhafteten und Verfolgten."

Zwar sind infolge einer Generalamnestie Hunderte politischer Gefangener wieder freigekommen, aber Tausende werden noch immer vom Geheimdienst festgehalten. Oft wissen die Familien nicht mal, wo und ob die Verschleppten noch am Leben sind.

Das Prinzip Zuckerbrot und Peitsche – Zugeständnisse einerseits und brutale Unterdrückung andererseits – kann den syrischen Aufstand zwar nicht beenden, wohl aber eindämmen. So ist es noch immer eine Minderheit, die offen den Sturz des Regimes fordert.

Unter der Woche demonstrieren Hunderte hier und Tausende da, freitags, am syrischen Wochenende, werden es Zehntausende. Aber auch nach drei Monaten bleiben die Demonstrationen örtlich beschränkt. Der in Paris lebende Syrer und Sprecher der Arabischen Kommission für Menschenrechte Haitham Manaa sieht die Protestbewegung in einer kritischen Phase.

"Das Wichtigste ist für mich die Frage, wie viele Menschen sich innerhalb Syriens an diesem Aufstand beteiligen. Und, um es deutlich zu sagen: Es sind noch nicht genug Menschen auf der Straße, das Militär verhindert die Ausweitung der Proteste. Das ist ein Problem für uns."

Solange die Mittelschicht in Damaskus und Aleppo nicht auf die Straße geht, fehlt der Bewegung die kritische Masse, die aus den vielen einzelnen Protesten eine landesweite Revolution machen könnte. Händler und Unternehmer, Angestellte der Privatwirtschaft und Beamte zögern dort aus einem einfachen Grund: Sie haben im Gegensatz zu den Syrern auf dem Land und in den Randbezirken der großen Städte einiges zu verlieren.

Die Wirtschaftsreformen der vergangenen Jahre haben das Land in Gewinner und Verlierer gespalten. Die Hauptstädter bestellen in schicken Cafés Capucchino zu deutschen Preisen, vergleichen dabei ihre neuesten Handymodelle und lassen gleichzeitig ihre Autos vor der Tür für ein Trinkgeld auf Hochglanz polieren.

Die Syrer in der Provinz dagegen sitzen auf Plastikstühlen vor ihren Häusern, trinken selbst gekochten Tee und schimpfen über die gestiegenen Preise für Lebensmittel, Heizöl und Benzin. Sah es zu sozialistischen Zeiten überall im Lande ähnlich aus, liegen heute Welten zwischen den breiten Boulevards und gepflegten Grünanlagen von Damaskus und den staubigen Straßen und Plätzen ländlicher Ortschaften.

Das Gefühl der Benachteiligung, wirtschaftliche Not, politische Unfreiheit und die alltägliche Gängelung durch die Geheimdienste haben sich beim ärmeren Teil der Bevölkerung zu wachsender Wut angestaut, die sich nun entlädt. Verantwortlich für die Niederschlagung der Proteste sind die Hardliner um Präsident Bashar Al Assad, vor allem sein Bruder Maher und sein Schwager Asef Schaukat.

Der Präsident selbst signalisiert dagegen Reformwillen und Gesprächsbereitschaft. Doch die Gesten des Präsidenten sind unglaubwürdig geworden. Wann immer Assad Anweisung gibt, nicht auf Demonstranten zu schießen, sterben am nächsten Tag wieder unbewaffnete Bürger. Während Assad die Freilassung politischer Gefangener anordnet, werden schon die nächsten Aktivisten verhaftet. Auch wenn er die Bekämpfung des Aufstands anderen überlässt, trägt er am Ende die Verantwortung für das Blutvergießen. Einen demokratischen Wandel werde es mit Bashar Al Assad jedenfalls nicht geben, erklärt Murhaf Jouejati, Professor für Internationale Beziehungen an der George Washington Universität im Fernsehsender Al Jazeera English.

"Bashar selbst will Syrien erhalten, wie er es geerbt hat. Er will mit wirtschaftlichen Reformen weitermachen, aber auf politischer Ebene will und kann er das System nicht verändern. Denn dadurch würden er und seine Familie am Ende die Macht verlieren."

Europäer und Amerikaner haben inzwischen gezielte Sanktionen gegen Präsident Assad und andere Vertreter des Regimes verhängt. Eine Militäraktion wie in Libyen wird es in Syrien nicht geben, denn der Westen fürchtet ein Szenario wie im Irak, wo auf den Einmarsch amerikanischer Truppen ein Bürgerkrieg folgte. Angesichts der vielen strategischen Fäden, die in Damaskus zusammenlaufen, könnte Chaos in Syrien die gesamte Region destabilisieren.

Hinzu kommt, dass Syriens Oppositionelle eine militärische Intervention kategorisch ablehnen.

Anfang Juni versammelten sich Syriens Exil-Oppositionelle in der türkischen Stadt Antalya. Die etwa 300 Vertreter sangen die syrische Nationalhymne und gedachten in einer Schweigeminute ihrer getöteten Landsleute. Neben Muslimbrüdern, Kurden, Stammesvertretern, säkularen Linken und Liberalen waren auch einige jüngere Aktivisten nach Antalya gereist. Unter ihnen Mohammed Al-Abdallah, ein 28-jähriger Jurist und Blogger, der im Libanon lebt.

"Das Ziel der Konferenz ist es, eine Verbindung zwischen den Aktivisten innerhalb und außerhalb Syriens herzustellen. Außerdem nutzen die Exil-Oppositionellen die Konferenz, um sich untereinander kennenzulernen, denn sie leben in Europa, den USA, der arabischen Welt und der Türkei."

Das Verhältnis zwischen Oppositionellen innerhalb und außerhalb Syriens ist seit jeher gespannt. Die altbekannten Figuren der Inlands-Opposition – Intellektuelle und Menschenrechtler, die wegen ihres Kampfes für Demokratie fast alle schon im Gefängnis saßen – betrachten die Regimegegner im Exil skeptisch. Sie bestehen darauf, Veränderungen nur von innen herbeizuführen. Die Auslandssyrer sind sich dieser Vorbehalte bewusst und betonen, die syrische Revolution nicht nach außen vertreten, sondern nur unterstützen zu wollen.

Rami Nakhle, ein junger Syrer, der in Beirut lebt, hämmert Tag und Nacht die neuesten Nachrichten über die Proteste in sein Laptop. Ohne Menschen wie ihn, ohne Handys, Satellitentelefone und Computer, ohne soziale Netzwerke wie Twitter, Facebook und You Tube wüsste die Welt so gut wie nichts über die Unruhen in Syrien.

Denn unabhängiger Journalismus ist in Syrien nicht möglich. Die verwackelten Videoclips, die Aktivisten mit ihren Handys aufnehmen und ins Internet stellen, sind die einzigen Zeugnisse für das, was derzeit in Syrien passiert.

Wie groß der Rückhalt der Internetaktivisten in der breiten Bevölkerung ist, lässt sich kaum feststellen, weil die Protestbewegung noch immer keine politische Führung hat. Aber sie versucht, sich effektiver zu organisieren und an Profil zu gewinnen. Vielerorts haben sich so genannte "Lokale Koordinationskommittees" gegründet, die die Demonstranten landesweit besser vernetzen wollen. Nahe der türkischen Grenze riefen Oppositionelle kürzlich sogar einen Nationalrat aus, der die syrische Revolution anführen soll.

Dennoch bleibt bei vielen Syrern ein Gefühl der Unsicherheit: Angesichts der verschiedenen Religionen und Ethnien, die in Syrien bislang friedlich zusammenleben, haben die Menschen Angst vor Chaos und konfessioneller Gewalt wie im benachbarten Irak. Vor allem religiöse Minderheiten stehen einem Regimewechsel skeptisch gegenüber. Zu ihnen gehören die Alawiten, eine Glaubensrichtung im schiitischen Islam. Weil sich die Herrscherfamilie der Assads zu den Alawiten zählt, fürchten sie, bei einem Regimewechsel für das Unrecht der Machthaber bezahlen zu müssen. Viele Christen misstrauen der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit – auch wegen der Verfolgung ihrer irakischen Glaubensbrüder. Sie sehen deshalb in Bashar Al Assad einen Garanten für ihre eigenen Rechte als Minderheit.

Die Regierung schürt diese Ängste zusätzlich, indem sie radikale Islamisten, bewaffnete Banden und ausländische Verschwörer für die Unruhen verantwortlich macht, die angeblich Zwietracht säen und das Land destabilisieren wollten. Burhan Ghalioun, ein angesehener syrischer Intellektueller, der an der Pariser Sorbonne lehrt, bezeichnet die offizielle Darstellung der Ereignisse als reine Propaganda.

"Angenommen, es gäbe diese Gruppen – und in Wirklichkeit gibt es sie nicht, denn diese angeblichen Salafisten sind alle Geheimdienstmitarbeiter – warum gelingt es den Sicherheitskräften dann nicht, sie zu bekämpfen? Wo sind die Geheimdienste? Wo sind die Helfer des Regimes? Diese Lügen glaubt in Syrien keiner."

Die Demonstranten reagieren auf die Vorwürfe, indem sie bewusst vor allem nationale und einende Parolen benutzen. Sie rufen Slogans wie "das syrische Volk ist vereint", tragen Plakate mit Kreuz und Halbmond und schwenken die syrische Flagge. Gezielt sprechen sie bei den Protesten auch immer wieder die syrische Armee an in der Hoffnung, diese könnte sich auf ihre Seite, die Seite des Volkes, schlagen. Tatsächlich mehren sich Berichte über desertierte Soldaten, die allerdings nur schwer zu überprüfen sind.

Ein Mann in dunkelgrüner Uniform hält seinen Armeeausweis in die Kamera und stellt sich als Oberstleutnant Abdelrazaq Mohammed Tlass vor, Mitglied der fünften Division in Homs. Er sei zur Armee gegangen, um sein Volk vor dem israelischen Feind zu beschützen und nicht um auf unbewaffnete Bürger zu schießen, erklärt der Oberstleutnant.

Bislang stehen Geheimdienste, Polizei und Militär in Syrien geschlossen hinter der politischen Führung. Im Gegensatz zu Tunesien und Ägypten verhält sich die Armee nicht neutral oder konstruktiv vermittelnd, sondern beteiligt sich aktiv an der Niederschlagung der Proteste. Sollten einzelnen Deserteuren nun größere Gruppen von Soldaten folgen, könnte das zu einer Spaltung des Militärs führen – für das Regime womöglich der Anfang vom Ende. Genau darauf hoffen die Demonstranten.

Seit Ende Mai haben sie endlich auch eine Symbolfigur: den 13-jährigen Hamza Al Khatib.

Das im Internet kursierende Video vom Leichnam des Jungen ist schwer zu ertragen. Sein Körper liegt auf einer Plastikplane, teilweise bedeckt von Blütenblättern, die den Toten als Märtyrer ausweisen. Eine Stimme stellt ihn als Hamza Al Khatib vor und beschreibt seine Verletzungen, während die Kamera für den Betrachter unerträgliche Details heranzoomt.

Seit Ende Mai ist Hamza Al Khatib das Gesicht des syrischen Aufstands. Der 13-Jährige soll von staatlichen Sicherheitskräften zu Tode gefoltert worden sein, sagen die Demonstranten. Die Regierung hält dagegen, er sei bei Protesten erschossen worden.

Wohl dosierte Zugeständnisse und vage Reformankündigungen sollen die Hoffnungen auf einen demokratischen Wandel mit Bashar Al Assad wach halten. Gleichzeitig wird die Protestbewegung im Land so diskreditiert, dass ihre brutale Niederschlagung als notwendig erscheint, um Sicherheit und Stabilität wiederherzustellen. Beides zusammen hält die Unentschlossenen weiterhin von der Straße fern.

Mit dieser Strategie spalten Syriens Machthaber die Gesellschaft in ein "mit uns" und ein "gegen uns" - im Vielvölkerstaat Syrien mit seinen verschiedenen Religionen und Konfessionen ein Spiel mit dem Feuer, meint Menschenrechtsvertreter Haitham Manaa. Denn das schon jetzt spürbare Misstrauen könnte sich zu interreligiösen Kämpfen wie im Irak entwickeln.

"Wenn sich in Syrien Gewalt und Konfessionalismus ausbreiten, dann ist das das Ende. Wir wollen, dass diese Revolution Syrien zu einem starken Staat macht, zu einem Beispiel in der Region und nicht zu einem gespaltenen Land mit einem konfessionellen System, das zuerst nach religiösen Zugehörigkeiten fragt und erst dann nach zivilen Überzeugungen."