Eine Romanfigur macht sich selbständig

25.03.2013
Graf T., Hauptdarsteller in "Tolstois Albtraum", will seinen eigenen Kopf durchsetzen gegen den Willen seines Schöpfers. Heraus kommt eine wüste Mischung aus Fantasy, Action, Comic, Horror und buddhistischen Weltauslegungen, gewürzt mit viel selbstironischem Humor und Sinn für Parodie.
Ein Roman mit einem solchen Titel, in dem die Hauptfigur als "Graf T." auf eine geradezu halsbrecherische Suche nach ihrer Identität geht, da bleiben praktisch keine Fragen offen. Jener Graf, der mit Leo Nikolajewitsch angeredet wird, von gewaltlosem Widerstand schwadroniert (dabei durchaus gewaltig und ohne großes Zögern austeilt), der sich mit der offiziellen Kirche anlegt, der auf seinem Gut eigens einen ihm ähnelnden Bauern angestellt hat, auf dass dieser im groben Russenhemd hinter einem Pflug übers Feld trotte, immer zu jener Stunde, in der der Expresszug vorbeifährt und die Reisenden aus dem Zugfenster heraus das gelebte Wort vom schlichten Dasein in Augenschein nehmen können, jener Graf also ist zunächst klar zu identifizieren als Leo Tolstoi und der Roman wohl offenbar eine parodistisch überzeichnete biografische Erzählung über ihn selbst.

Aber ganz so einfach liegen die Dinge nicht, und allerspätestens, wenn Graf T. in einem Petersburger Schützengraben auf Dostojewski trifft, der damit beschäftigt ist, aus der Deckung Zombies abzuschießen, um ihnen Wurst und Wodka abknöpfen zu können, und der den Grafen schließlich durch die Kanalisation zum Haus des geheimnisvollen Oberprokurators Pobedonoszew führt, weiß man, dass die Szenerie keine simple historische Satire ist, sondern dass man im wild gewordenen Kosmos von Viktor Pelewin gelandet ist.

In diesem Moment ist bereits klar, dass man es keineswegs mit einer – wie auch immer grundierten – Nacherzählung von Lebensepisoden des Verfassers von "Krieg und Frieden" zu tun hat, dass vielmehr "Graf T." eine Romanfigur ist, die sich ihrem Status als Romanfigur bewusst geworden ist und versucht, gegen ihre Autoren (ein ziemlich windiges Kollektiv, eher freie Werbetexter als Schriftsteller) zu rebellieren, ein Eigenleben zu gewinnen.

Für eine Romanfigur ist eine solche Rebellion natürlich lebensgefährlich, nicht nur der Weg der Erkenntnis selbst birgt zahlreiche Gefahren, auch die Emanzipation vom vorgesehenen Skript ist eine überaus gefährliche Angelegenheit. Die keineswegs leichter wird durch die Einsicht, dass man – als Figur in einem Roman – von anderen Romanfiguren umgeben ist, dass folglich jedwede Situation von einer kompletten Doppelbödigkeit getragen wird: hier die (vorgegebene) Handlung, dort die Intention des Autors (beziehungsweise der Autoren) im Blick auf die künftige Entwicklung des Geschehens. So viel Komplikation braucht natürlich einen genialischen Geist, der Licht in das verworrene Handlungs- und Motivgeflecht bringt.

Der Philosoph Wladimir Solowjow (1853 – 1900), ein Denker mit starker Neigung zur Religiosität und zum Mystizismus, wird zum aufklärenden "Romanaussteiger" im Roman, der Graf T. die Fäden seiner Welt zu entwirren hilft.

Um diesen literarisch-geistesgeschichtlichen Kern entfacht Pelewin (wie immer) sein imposantes Feuerwerk, in dem sich wüste Fantasy, Action, Comic, Horror und buddhistische Weltauslegungen in rasanter Folge abwechseln oder auch mischen. Beseelt von viel selbstironischem Humor und Sinn für Parodie, verfolgt dieser Autor sein Projekt, den Prozess des Aufgehens der großen Erzählungen in einem gewaltigen Schwall aus popkulturellem Posthistoire zu beschreiben.

Besprochen von Gregor Ziolkowski

Viktor Pelewin: "Tolstois Albtraum"
Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg
Luchterhand Literaturverlag, München 2013
448 Seiten, 21,99 Euro