Einblicke in die DDR-Subkulturen der 80er-Jahre

Die Ostberliner Jugend Ende der 80er-Jahre hat keine großen Träume mehr. Stattdessen hat sie sich in einer Nische ganz bequem eingerichtet. So wie Lem, der nachts auf Schrottplätzen nach Elektroteilen für seinen Computer sucht.
Ostberlin, 1987/88: Der junge Lemania Pirck, kurz Lem, lernt Ira kennen, die schwanger wird. Aber die Beziehung der beiden ist problematisch. Ira heiratet schon bald in den Westen. Lem hingegen schweift weiter herum in dem Lebensabschnitt zwischen Ausbildung und Nationaler Volksarmee, zwischen jugendlicher Sorglosigkeit und erwachsener Verantwortung. Inhaltlich passiert sonst nichts in Marc Schweskas Romandebüt "Zur letzten Instanz".

Um die äußere Handlung kann es dem Autor also kaum gehen, den Schwerpunkt seines immerhin 360 Seiten langen Romans hat er vielmehr auf die Schilderung der Subkulturen gelegt, durch die sich der "Held" des Buchs, Lem, bewegt: elektronische Basteleien mit Gleichgesinnten an ersten Computern, Musik, Soundeffekte und auch Partys.

Die Ostberliner Jugend Ende der 80er-Jahre in der DDR hat nur keine großen Zukunftsträume mehr. Stattdessen hat man es sich in einer Nische ganz bequem eingerichtet. Lems Vater und sein Großvater haben ihre Träume schließlich auch begraben müssen: Der eine scheiterte als Kybernetiker, der andere taucht nur noch als Zerrbild eines politischen Betonkopfs auf, dessen Durst nach Stabilität längst lächerlich geworden ist.

Bleibt also Lem, der seinen Lebensunterhalt als Beleuchter am Theater verdient und nachts die Schrottplätze nach Elektroteilen durchkämmt. Die braucht er für Computer Marke Eigenbau oder Soundeffekte für eine experimentelle Band – Lems Lötkolben ist gewissermaßen der Schlüssel für die Tür zu einer spannenderen Welt.

Interessant, aber auch sehr gewöhnungsbedürftig in Marc Schweskas Buch ist die Collagenform: Briefe, Redemanuskripte, Stasiprotokolle, Artikel aus Zeitschriften, ja selbst Schaltpläne wechseln einander unvermittelt ab. Die erzählte Handlung ist dadurch oft nur mühsam im Vordergrund zu halten. Schwierig wird das Buch durch russische Sprichwörter, die ohne Übersetzung in kyrillischer Schrift abgedruckt sind.

Nichteingeweihte, also Leser, die im Westen groß wurden, sind klar im Nachteil. Aber das soll wohl so sein: Iras "Westkontakt" ist ein Kreuzberger Faulenzer, und überhaupt ist der Westen nicht das Paradies, dem alle in der Endphase der DDR zustreben würden. Im Gegenteil: Lems unaufgeregte Haltung dem real existierenden Sozialismus gegenüber hat ja auch ihre Vorteile: Kultur- und Nachtleben sind übersichtlich, jeder kennt jeden, leidige Umstände nimmt man lieber mit Humor denn als Anlass, ein waghalsiger Freiheitskämpfer zu werden. Insofern gibt Marc Schweskas Roman einen guten Einblick in Subkulturen in der DDR. Da waren eben nicht nur Mauer-Einreißer, sondern die Jugend hatte sehr wohl ihre Hobbys, ihre Freiräume und ganz bestimmt auch ihre Lebensfreude.

Ein Glossar gibt einen Überblick über so manchen Insider-Begriff, aber weil die nachzuschlagenden Begriffe im Text nicht gekennzeichnet sind, ist es nicht sonderlich hilfreich. Und: Dass mit dem Begriff "Broiler" ein Grillhähnchen gemeint ist, das weiß man doch, während wohl kaum einer darauf kommt, die Vokabel "Weiberarsch" nachzuschlagen – dahinter verbirgt sich eine Pfannenschaufel.

Die tiefen Einblicke in die von Marc Schweskas Buch vorgestellten DDR-Subkulturen machen dieses kleine Manko jedoch mehr als wett.

Rezensent: Roland Krüger

Marc Schweska: Zur letzten Instanz
Roman
Eichborn Verlag, Frankfurt / Main 2011
360 Seiten, 32 Euro