"Ein Notnagel in einer schwierigen, hitzigen Debatte"

Antje Vollmer im Gespräch mit Christopher Ricke · 12.03.2010
Die Grünen-Politikerin und Theologin Antje Vollmer äußert sich kritisch über die geplanten Runden Tische für die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen. Man sollte dieses komplizierte Instrument nicht allzu inflationär gebrauchen.
Christopher Ricke: Der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in deutschen Schulen und Internaten, die Bundesfamilienministerin Kristina Schröder hat gemeinsam mit der Bundesbildungsministerin Annette Schavan einen Runden Tisch einberufen. Einen weiteren, einen zweiten Runden Tisch will die Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Der Vorteil solcher Runden Tische ist ja: Keiner sitzt dem Tisch vor, keiner sitzt am Rand, jeder kann dem anderen in die Augen sehen.

Ein Runder Tisch ist also ausdrücklich keine Anklagebank. Zurzeit werden an einem solch Runden Tisch von Kirchen, staatlichen Heimträgern und Vertretern der Heimkinder die Verbrechen an Heimkindern in den 50er- und 60er-Jahren aufgearbeitet. In fünf Wochen trifft man sich zum siebten Mal. Und die Schirmherrin dieses Runden Tisches ist die Grünen-Politikerin Antje Vollmer, die frühere Vizepräsidentin des Bundestages. Guten Morgen, Frau Vollmer.

Antje Vollmer: Guten Morgen, Herr Ricke.

Ricke: Jetzt sollen ja gleich zwei Runde Tische aufgestellt werden zum Thema Kindesmissbrauch. Wie sinnvoll ist es denn aus Ihrer Sicht, das an zwei Tischen zu diskutieren?

Vollmer: Ich habe schon gesagt, man soll dieses sehr komplizierte Instrument nicht allzu inflationär gebrauchen. Dann hat man eher den Eindruck, dass das so ein Notnagel in einer schwierigen, hitzigen Debatte ist.

An sich ist ein Runder Tisch etwas sehr Ungewöhnliches, erfunden eigentlich zur Überwindung antagonistischer Widersprüche in einer besonderen historischen Epoche, nämlich in Polen, wo man sagt, Regierung und Gesellschaft sollen nicht auf Einladung der Regierung zusammenkommen, sondern in einem extra Raum, um eine ganz besondere, schwierige Frage zu lösen.

Runde Tische können auf jeden Fall nicht die Arbeit der Parlamente ersetzen, und einen Teil der Vorschläge, die jetzt etwas mit heißer Nadel gestrickt in die Debatte kommen, gehören ganz eindeutig in parlamentarische Zuständigkeiten. Also zum Beispiel, wenn Frau Schavan sagt, man soll die Verjährung aufheben, das ist eine der kompliziertesten Sachen, denn man greift da ja in einen ganzen Umfang von verschiedenen Strafmaßnahmen ein, also in eine Systematik.

Das kann man nicht mal einmal in einem eigentlich nicht legitimierten, freiwilligen Gremium machen. Oder die Justizministerin sagt, sie will mal eben die Kirchen zu einer Entschädigung auffordern. Da wünsche ich viel Erfolg. Das ist nicht so ganz einfach möglich, schon gar nicht mal eben in einem Runden Tisch. Also man muss wissen, dass es ein kompliziertes Instrument ist, und man muss sich überlegen, wie die Geschädigten denn da angemessen vertreten sein sollen, und das ist oft eines der größten Probleme. Wer wählt einen Vertreter aller Geschädigten?

Ricke: Jetzt gibt es aber Dinge, die man durchaus im außerparlamentarischen Raum diskutieren muss, die vielleicht an einem Runden Tisch sehr gut aufgehoben wären. Das sind die Erfahrungen, das ist der Schmerz, das ist die Bitternis der Opfer. Ist das etwas, worüber man im Kreis spricht?

Vollmer: Darüber spricht man ja jetzt in der Öffentlichkeit, und das begrüße ich sehr. So viel da jetzt hoch kommt – und manches war auch durchaus früher bekannt -, zeigt es doch der ganzen Gesellschaft, hier hat es an vielem gefehlt: am Mut von Kollegen, einzugreifen, wenn sie so was gesehen haben, an Unterstützung für die Kinder.

Das heißt, diese gesellschaftliche Debatte wird auf jeden Fall die Bereitschaft zur Aufklärung und auch die Bereitschaft, Kinder vorzubereiten, dass ihnen so etwas passieren kann, erheblich erhöhen und wird auch, glaube ich, in Ausbildungsinstituten bis hin zur Auswahl von Priestern eine ganz andere Rolle spielen. Diese positive Funktion ist erst mal festzuhalten. Das kann dann eventuell auch eine Beratungsrunde bündeln.

Das wäre dann ähnlich wie die Islam-Konferenz, die sich um gesellschaftliche Fragen kümmert. So etwas ist immer sinnvoll. Man soll nur die Erwartungen daran nicht überhöhen, denn es bleibt ein freiwilliges Gremium und manchmal ist es auch auf die lange Bank geschoben, und vor allen Dingen soll man wissen: Wir haben gewählte Parlamente, und die sollten eigentlich zu einem solchen Mittel greifen.

Und wenn es um Gesetzesüberprüfungen geht, dann ist das auch Sache der Parlamente. Übrigens Erziehungsfragen – das kommt in diesem Fall noch hinzu – sind eigentlich Ländersache. Das heißt, mit so einem Vorschlag greift man in alle möglichen Kompetenzen, und das muss man miteinander abwägen.

Ricke: Sollte man also alle beide Runde Tische am besten gleich absagen, sowohl den von Frau Leutheusser-Schnarrenberger als auch den von Frau Schavan und Frau Schröder?

Vollmer: Nein, ich werde so was nie sagen. Es sind doch Vorschläge. Aber man sollte vielleicht erst mal Beratungsrunden machen und dann genau erklären, was daraus wird, welche Form von Gremium und wie lange es dann arbeitet und was es am Ende an Kompetenz hat. Und – da bin ich nun alte Parlamentarierin – man soll die Parlamente nicht unterschätzen, die können sich auch um vieles kümmern.

Ricke: Jetzt haben wir die Diskussion insbesondere über die katholische Kirche, auch wenn das möglicherweise nur ein kleiner Zipfel der ganzen Katastrophe ist, die an deutschen Schulen und Internaten stattgefunden hat. Und die katholische Kirche tut sich sehr schwer in dieser Diskussion. Haben Sie als evangelische Theologin Verständnis für die Probleme, wenn jemand, der eigentlich die Moral institutionalisiert, darstellt, in eine solche Situation gerät?

Vollmer: Ja, auf jeden Fall. Also es bleibt eine ganz interne und sehr schmerzhafte Frage an die Kirchen, wenn in ihren Räumen so was passiert, nämlich dass Menschen, die zu ihnen gekommen sind, weil sie besonderes Vertrauen hatten – sie haben ja ein Mehr an Vertrauensschutz vermutet -, wenn denen dann das passiert. Daraus entstehen ganz schmerzhafte, bittere Fragen für die Kirchen, vor allen Dingen auch in Bezug auf die Personalauswahl und auf die Vorbereitung ihrer Leute, und das kann ihnen niemand ersparen.

Aber man muss auch wissen, dass das in solchen Institutionen – und da ist die katholische Kirche ganz besonders traditionsbewusst -, dass die immer die Angst haben, sich zu modernisieren, weil sie denken, dann ist der ganze Bestand nicht mehr gesichert. Dann verweisen sie immer auf die Protestanten und sagen, denen geht es doch auch nicht besser, obwohl die alle diese festen Einschränkungen nicht haben.

Das sind Institutionenängste, aber da kann ihnen niemand helfen. Beide Kirchen leben in einer modernen Welt, mit modernen Debatten und auch mit modernen Freiheiten, und sie müssen auf diese Welt reagieren. Sie können nicht einen heiligen Bezirk, ein Arkanum schaffen, in dem diese Welt keine Auswirkung hat.

Ricke: Vielen Dank, Antje Vollmer.