Ein Jahrhundert in 200 Stücken

Von Volkhard App · 04.07.2009
Im Landesmuseum Oldenburg wird die deutsche Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts anhand von 200 Exponaten rekonstruiert. Die Schau "100 Jahre - 100 Objekte" stellt zeitprägende Stücke aus, vom Steiff-Teddybären bis zum ersten Macintosh-Computer. Die Parallelausstellung "100 Jahre - 100 Bilder" widmet sich ganz der Malerei.
Ein Jahrhundert wird besichtigt. Mit "sprechenden Objekten" lässt man - Jahr für Jahr - deutsche Geschichte Revue passieren: Von der Schachtel, in der 1900 Aspirin erstmals in Tablettenform auf dem Markt angeboten wurde, bis zum Modell für das Jüdische Museum von Daniel Libeskind, das für 1999 steht. Hier ein uralter Steiff-Teddybär, dort eine Gasmaske aus dem Ersten Weltkrieg, hier die Uniform des "Hauptmanns von Köpenick", dort angekokeltes Besteck aus dem ausgebrannten Zeppelin "Hindenburg”. In einer Vitrine das Kittelkleid einer Trümmerfrau, in einer anderen der erste Macintosh-Computer von '84. Eine Wunderkammer der Kult- und Gedenkobjekte, wobei zwei den Kurator Siegfried Müller besonders bewegen:

"Der Endspielball der Fußball-WM von 1954 in Bern ist für mich schon etwas Besonderes. Nicht nur, weil ich auch Fußballfan bin, sondern weil die junge Bundesrepublik einen unwahrscheinlichen Identitätsschub bekommen hat: ‘Wir sind wieder wer!‘ hieß es damals. Und das zweite Exponat, das mich sehr fasziniert hat, ist das Laborbuch Otto Hahns von 1938, in dem er weltweit die erste Kernspaltung notiert hat. Und für jeden Physiker ist das eine Art Evangelium, denn hier hat er etwas notiert, was heute noch die unterschiedlichsten Auswirkungen hat."

Die Kunst kommt nicht zu kurz: Von Heinrich Manns "Untertan" liegt eine Erstausgabe hinter Glas, und der Film ist mit Entwurfszeichnungen zu Fritz Langs visionärem "Metropolis" vertreten, mit einem Originalrequisit aus dem "Blauen Engel" und dem Drehbuch des skandalösen Hildegard-Knef-Streifens "Die Sünderin" von 1951. Nicht zu vergessen die schmuddelige Jacke, die Götz George als "Schimanski" getragen hat.

Eine intensive Suche nach noch vorhandenen Objekten dieser Art ist vorausgegangen - und auf die Ereignisse, die hier repräsentiert werden sollen, musste man sich ja erst einmal festlegen. Müller:

"Wir haben für diese Ausstellung monatelang in Chroniken recherchiert - und dann macht man eine Liste, für die man vielleicht sechs Exponate für jedes Jahr herausfiltert, und hat dann irgendwann das Exponat, das es sein soll."

Die Frage ist aber, wie viel solche Gedenkobjekte tatsächlich von sich aus erzählen, welche sozialen und politischen Zusammenhänge sie offenlegen und welche sie eher verklären. Und ob sie einander nivellieren: hier der Judenstern, dort der Zauberwürfel. Das Nebeneinander des so Unterschiedlichen ist für den Betrachter jedenfalls eine geistige Herausforderung. Die Rettungskapsel für die Eingeschlossenen von Lengede, die Wimbledon-Schuhe von Bobbele, der Fragebogen zur umstrittenen Volkszählung von '87 - wer kann das alles noch unter einen Hut bringen? Müller:

"Es ist ja eine generationenübergreifende Ausstellung und es ist für jeden Besucher etwas dabei. Und wenn ich ein Objekt sehe und verknüpfe es mit einem Thema, läuft da gewissermaßen meine eigene Geschichte mit ab und deshalb denke ich, dass jeder die Möglichkeit hat, Bilder zu assoziieren, die aus seinem Gedächtnisspeicher zu dem betreffenden Ereignis hinzukommen."

Die DDR ist weniger stark berücksichtigt. Mit dabei die Borduniform des Kosmonauten Sigmund Jähn, die durch ein Phantasiekostüm aus der ARD-Fernsehserie "Raumpatrouille Orion" konterkariert wird. Der Trabbi, das Lieblingsauto aller Deutschen um '89 und '90, fehlt selbstverständlich nicht. Eine erstaunlich bestückte Schau, die so heterogen ist wie das 20. Jahrhundert vielfältig und zerrissen war.

Penibel, Jahr für Jahr, geht es auch in der Parallelausstellung durch die Geschichte - nur dass hier Gemälde an die Stelle der "sprechenden Objekte" getreten sind. Von Max Liebermanns holländischen Biergarten-Impressionen von 1900 bis zu Harry Meyers schlierenhaftem "Regen"-Bild von 1999. Als einen Versuch bezeichnet selbst Museumsdirektor und Kurator Bernd Küster diesen chronologischen Zugriff:

"Das ist natürlich ein verwegenes Konzept. Die Frage, die uns bei der Realisierungsphase beschäftigt hat: Geht das überhaupt auf? Ist es möglich, die vielen Wandlungsprozesse der Bildenden Kunst in eine lineare Folge zu bringen? Denn vieles ist gleichzeitig passiert, und dieser Wandlungsprozess ist ein ununterbrochener: vom Impressionismus über den Expressionismus in die Abstraktion und zurück in den Realismus. Nach 1945 wieder hinein in die Abstraktion, dann eine Renaissance des Realismus und des Expressionismus bei den jungen Wilden bis hin zu einer Stilpluralität, die schier unüberschaubar scheint."

Nicht nur die divergenten Stile werden hier veranschaulicht, zugleich haben sich Zeitstimmungen auf einzelnen Bildern verdichtet. Apokalyptische Gefühle bei Franz Radziwill, die Erfahrung nackter Gewalt bei Karl Hubbuch, düstere Symbolik herrscht während der NS-Zeit vor, während der von Felix Nussbaum 1943 gemalte "Jude am Fenster" eine unmittelbare Anklage darstellt. Dreißig Jahre später entlarvt Johannes Grützke die westliche Fortschrittseuphorie.

Eine das Jahrhundert umspannende Zeitreise - aber eine ohne Franz Marc und Kurt Schwitters, ohne Beuys und Baselitz, Kiefer und Polke, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Und manche prominenten Künstler sind mit weniger typischen Bildern in Szene gesetzt- oder eher kleinen, wie Emil Schumacher. Vor allem werden nicht so bekannte Maler mit starken Werken in Erinnerung gerufen - sodass diese Schau im Ganzen reich ist an Überraschungen. Statt eine reine Abhakliste mit den "üblichen Verdächtigen" zu bieten, wird dieser Jahrhundertgang zu einer kleinen Expedition, bei der immer wieder Korrespondenzen auffallen. Stilistisch verschiedene Porträts von Otto Dix und Conrad Felixmüller gelten ein und derselben Person, Landschaften treffen aufeinander, und gegenständliche Motive begegnen dem reinen Spiel mit Farben und Formen. Küster hatte die Qual der Wahl, wird bei den Leihgaben aber wohl auch an ökonomische Grenzen gestoßen sein. Küster:

"Weniger an ökonomische als an die Grenze der Bereitwilligkeit, uns Dinge auszuleihen. Besonders die Museen sind sehr anstrengend im Umgang mit anderen Institutionen. Und die Auflagen sind sehr hoch. Heute einen Dix zu bekommen, aus einem bundesdeutschen Museum, ist fast aussichtslos, weil sie alle sehr gefährdet sind. Dasselbe gilt für Werke von Ludwig Meidner aus der wichtigen Zeit von 1912 und 1913, weil ihre Materialität zu schwach ist, um auf Reisen zu gehen. Also man stößt da an Grenzen, nicht nur der Ausleihwilligkeit, sondern auch Ausleihfähigkeit."

Weit davon entfernt ist man, wie jüngst in Berlin, die DDR-Kunst auszugrenzen - ein traumatisches Erinnerungsgemälde von Bernhard Heisig und ein expressives Werk von Walter Libuda fallen in Oldenburg auf. Und doch bleibt die DDR-Kunst eher eine Randerscheinung in dieser Ausstellung, die womöglich unter zu großem, epochalem Etikett antritt, in weiten Teilen aber eine Augenweide ist und, zusammen mit den Kultobjekten nebenan, die Reise nach Oldenburg lohnt.

Service

Die Ausstellung "100 Jahre – 100 Objekte. Das 20. Jahrhundert in der deutschen Kulturgeschichte" ist vom 3. Juli bis 4. Oktober 2009 im Landesmuseum Oldenburg zu sehen. Parallel dazu findet die Ausstellung "100 Jahre - 100 Bilder. Deutsche Malerei im 20. Jahrhundert" statt.