"Ein ganz anderes Selbstbewusstsein"

Von Gerald Beyrodt · 08.07.2011
Vor zehn Jahren gründeten 40 junge Erwachsene in Hannover den Verein "Jung und Jüdisch". Die Teilnehmer wollten einen dezidiert liberalen Verein. Frauen sollen zum Beispiel bei Gottesdiensten auf Freizeiten gleichberechtigt sein.
Wer die Teilnehmer von "Jung und Jüdisch"-Workshops nach ihren Berufen fragt, bekommt zu hören: Mathematikstudent, Psychologiestudentin, Jurastudent. Oder auch: Kulturwissenschaftlerin und Psychologin. Fast alle sind Studenten oder arbeiten in akademischen Berufen. Tischler und Installateure findet man eher nicht. Der Schwerpunkt von "Jung und Jüdisch" liegt denn auch beim Thema Bildung.

Die 18- bis 35-Jährigen lernen gemeinsam Tora und Talmud, lesen in einem Literaturkreis Romane, diskutieren über israelische Politik und gehen gemeinsam in die Oper. In bundesweiten Seminaren und in Regionalgruppen von München bis Hamburg informieren sie sich über jüdische Religion. So eignen sie sich die Liturgie des Freitagabends an und lernen den Gottesdienst zu leiten, mit dem der Schabbat beginnt.

"Judentum als Religion wäre für mich als Religion uninteressant, ohne die kritische, moderne Auseinandersetzung mit Religion."

… sagt Michelle Piccirillo, die Bundesvorsitzende. "Jung und Jüdisch" ist eine liberale Gruppe und gehört zur Union progressiver Juden in Deutschland. Die liberale Bewegung schreibt sich heute die Gleichberechtigung von Frauen im Gottesdienst auf die Fahnen und heißt Lesben und Schwule ausdrücklich willkommen.

Michelle Piccirillo: "Und ich kann nicht meinen Glauben an Wissenschaft, Technik, Menschenrechte, die ich sonst im Alltag lebe, einfach über Bord werfen, sobald ich inne Synagoge gehe. Wenn ich in eine Gemeinde gehe zum Beten, wo ich weiß, dass Schwule und Lesben nicht offiziell willkommen sind, aber in meinem Freundeskreis viele schwul oder lesbisch sind, dann find ich das einfach inkonsequent. Und deshalb möchte ich in der Gemeinde, in der ich bete, auch sozusagen Gleichgesinnte um mich haben."

Andrea Mihail ist in einem säkularen Elternhaus aufgewachsen. Als sie zu "Jung und Jüdisch" kam, genoss sie es, gemeinsam mit anderen jungen Erwachsenen das Pessach-Fest und das Neujahrsfest Rosch ha-Schana zu feiern.

Andrea Mihail: "Das hat auf jeden Fall geholfen, weil ich am Anfang gar nicht wusste, wie man die Feste feiert und sehr unsicher war, was ist richtig, was ist falsch, was darf man machen, was darf man auf gar keinen Fall machen."

Es gibt keine "Jung und Jüdisch"-Geschäftsstelle und keine angestellten Mitarbeiter. Alle Angebote kommen von den jungen Erwachsenen selbst. Sie organisieren die Seminare, laden Referenten ein, verhandeln um Fördermittel, halten die Kassenbücher in Ordnung. Eva Schafberg, die Vorsitzende der Berliner Regionalgruppe:

"Das ist uns auch ganz wichtig, dass sich "Jung und Jüdisch" dadurch auszeichnet, dass es von jungen Leuten für junge Leute ist. Das ist uns wichtig. Natürlich ist es so, dass der Vorstand die meiste Arbeit macht, aber auch das unentgeltlich und ehrenamtlich."

Weiterer wichtiger Grundsatz von Jung und Jüdisch: Die Organisation heißt auch Teilnehmer mit jüdischem Vater willkommen. Damit geht sie noch über die Positionen liberaler Gemeinden in Deutschland hinaus. Wer Mitglied einer liberalen Gemeinde werden will und nur einen jüdischen Vater hat, muss bislang formell zum Judentum übertreten. Michelle Piccirillo:

"Unser Ziel ist es, die Gleichberechtigung von matrilinearen und patrilinearen Juden zu erreichen, weil wir das nicht so sehen, dass das irgend 'ne Rolle spielen sollte. Letztendlich finden wir, dass die Erziehung die Rolle spielen sollte und nicht der Vater oder die Mutter."

Michelle Piccirillo war bei der Gründung von "Jung und Jüdisch" vor zehn Jahren in Hannover dabei. Inzwischen hat sich "Jung und Jüdisch" zusammen mit der liberalen Bewegung etabliert. Heute bekommt die Gruppe Fördermittel des Zentralrates der Juden in Deutschland. Der Zentralrat bekämpft die Liberalen längst nicht mehr als Abtrünnige und fördert das Nachwuchspotential von "Jung und Jüdisch".
Da es vielerorts liberale Gemeinden gibt, kommen Jugendliche nach, die von Anfang das Judentum liberal erfahren haben, sagt Michelle Piccirillo:

"Im Gegensatz zu mir, die nicht von Anfang in Reformjudentum so geschult oder aufgewachsen ist, von einer Bewegung kann man gar nicht sprechen, sind die von Anfang an zu Hause gewesen in Reformgemeinden und auch was ihre Jugendfreizeiten betrifft, haben die von Anfang an mitgemacht bei den Ferienfreizeiten der Union progressiver Juden. Die haben noch mal ein ganz anderes Selbstbewusstsein. Für die ist das so normal, so wie sie ihre Religion leben. Da war ich schon häufiger neidisch und hab gedacht, es ist toll, dass sie das hatten, aber ich hätte es auch gerne gehabt."

Homepage des Vereins