Ein Buch als Vermächtnis

Vorgestellt von Helmut Böttiger |
Thomas Kling gilt als einer der bedeutendsten Lyriker der Gegenwart. Er ist vor wenigen Tagen im Alter von 47 Jahren an Lungenkrebs gestorben. Sein letztes Buch, "Auswertung der Flugdaten", ist deswegen zu einem Vermächtnis geworden.
An dem ersten Gedichtzyklus, "Gesang von der Bronchoskopie", arbeitete er bis kurz vor seinem Tod: es geht darin um den Krankenhausaufenthalt, um die Untersuchungsmethoden, um den Körper und den wissenschaftlichen Zugriff darauf. Es sind scharf sezierende Texte, ohne vordergründige Gefühligkeit, kalt, rhythmisch, mit grellen Bild- und Toneffekten.

"Auswertung der Flugdaten" ist aber nicht einfach nur ein Gedichtband. Kling hat in letzter Zeit immer häufiger Programmatisches geschrieben, Essayistisches. In diesem Buch gibt es mehrere "Projekt" genannte Stücke, die Motive durcharbeiten – das geht in kürzeren und auch längeren Prosaschüben vor sich, mit analytischen und poetischen Passagen, und auch vor Polemik scheut Kling nicht zurück.

Einmal benennt er direkt seinen größten Konkurrenten um den zeitgenössischen Lyrik-Thron, Durs Grünbein, und der Ton ist nicht einfach nur ironisch – er ist ausgesprochen hämisch:

"Wenn den Antikefreund das Fell juckt, er aber kein Gefühl für Geschichte hat? Dann bekommt man Kostümfilm – Sandalenfilme aus den Grünbein-Studios."

Kling und Grünbein sind die gegenwärtigen Lyrik-Antipoden. Sie stehen in unterschiedlichen Traditionslinien. Während Grünbein die Bildmetaphorik der Moderne fortsetzt, ist für Kling das Grundmaterial die Sprache selbst. Er schließt an die Lautpoeten an, an die Performancetraditionen der Moderne. Das Klangliche spielt in seinen Texten die ausschlaggebende Rolle.

Kling trat in den achtziger Jahren im Gefolge von Punk und Performances der Bildenden Kunst auf und erregte Aufsehen durch seine Art des Gedichtvortrags: "Rampensau" ist für ihn ein hoch positiv besetztes Wort. Er war schulbildend: Viele Lyriker aus der Pop- und Slamszene beziehen sich ausdrücklich auf ihn. Musik ist für ihn genauso wichtig wie die Schrift, gerade in der Lyrik.

Das Vermögen, bewundernde Jünger um sich zu scharen, ist nicht die einzige Gemeinsamkeit zwischen Kling und Stefan George. Beide sind in Bingen am Rhein geboren, Kling verehrt den Meister des "Bingener Voodoo", und charakteristisch ist, in welchen Worten er das tut: George sei "extrem timingsicher", es sei ihm ständig darum gegangen, "sein image zu wahren", es ging ihm immer um die "überwachung des nächsten publicity-shots" und die "verbannung unbotmäßiger aus seinem staff".

Kling aktualisiert George mit den Worten unbedingter Zeitgenossenschaft, und das wirkt manchmal richtiggehend überreizt, hyperzeitgenössisch.

Das Rhetorische ist für Kling ein wichtiger Maßstab, und sein "Andocken an die Geschichte", wie er es nennt, rekurriert deswegen vor allem aufs Mittelhochdeutsche, aufs Barock, auf Expressionismus und Dadaismus.

Die "Flugdaten" stehen für ihn gleichzeitig für einen Rausch, das Technische ist gleichzeitig das Dionysische, es geht um rasantes Augenblicksbewusstsein. In diesem Zeichen steht auch seine "Vorzeitbelebung", sein Andocken an die Antike, oder seine Beschäftigung mit dem Isenheimer Altar von Matthias Grünewald.

Thomas Kling: Auswertung der Flugdaten
Gedichte
DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2005
172 Seiten mit einem Fotozyklus von Ute Langanky, EUR 17,90