Ed Yong: "Winzige Gefährten"

Wimmelndes Netzwerk des Lebens

Ed Yong: "Winzige Gefährten"
Ed Yong: "Winzige Gefährten" © Verlag Antje Kunstmann/imago/Science Photo Library
Von Susanne Billig · 23.03.2018
Stündlich sprüht ein Mensch 27 Millionen Bakterien in kleinen Tröpfchen in die Umgebung, schreibt der Wissenschaftsjournalist Ed Yong in "Winzige Gefährten". Selten hat ein Autor so faszinierend und vielfältig über Kokken und Bazillen erzählt.
Ein 450-Seiten-Buch über Bakterien, das man nicht aus der Hand legen möchte? Der Wissenschaftsjournalist Ed Yong macht mit "Winzige Gefährten" vor, wie das geht. Selten hat man einen Autor so faszinierend, begeisternd und vielfältig von den mikroskopischen Lebenswelten der Kokken und Bazillen, Spirillen und Oscillatoria erzählen hören – kein Wunder, dass Ed Yong es mit seinem Erstling umgehend auf die Bestsellerliste der New York Times geschafft hat.

Wie Bakterien den Aufbau tierischer Körper lenken

Mehrere Milliarden Jahre lang hatten Bakterien den blauen Planeten für sich allein, erzählt dieses Buch. Wie eng und unauflösbar – bis hinein in genetische Verzahnungen – sich höhere Lebewesen in Symbiose mit Bakterien entwickelt haben und welche Erstaunlichkeiten die biologische Forschung über diese Phänomene heute nach und nach enthüllt, berichtet Ed Yong in zehn spannenden Kapiteln. Eines befasst sich zum Beispiel mit dem verblüffenden Umstand, dass Bakterien den Aufbau tierischer Körper lenken, indem sie Moleküle und Signale abgeben, die das Wachstum der Organe steuern. So entwickelt sich der Darm von Zebrafischen zu einem löchrigen, funktionslosen Schlauch, wenn die entsprechende Zuarbeit von Mikroorganismen fehlt.
Ein extremes Beispiel für die Symbiose zwischen Tieren und Bakterien liefert eine Wurmart der Tiefsee, die auf ein eigenes Verdauungssystem völlig verzichtet und sich stattdessen auf Kolonien von Mikroorganismen verlässt, um an Nährstoffe zu gelangen. Doch warum in die Tiefsee schauen: Auch Kühe und Ziegen – wie überhaupt alle Wiederkäuer – sind für die Kernaufgabe ihrer Ernährung auf die Bakterien in ihren Bäuchen angewiesen. In anderen Kapiteln geht es um die enge Zusammenarbeit von Einzellern und Immunsystem oder um die erstaunlichen Wanderungen, die Bakterien vornehmen: hinaus aus einem Körper, in der Umwelt vagabundieren und bei Gelegenheit in den nächsten Körper migrieren. Auch die Mechanismen, mit denen Tiere den Andrang der Einzeller zu kontrollieren versuchen, sind ein wichtiges Thema.

Weit jenseits der Biologie

Wie schafft es ein Buch über Mikroorganismen, 450 Seiten lang zu fesseln? Es liegt an dem abwechslungsreichen und flüssigen Stil Ed Yongs, seinen Besuchen bei Wissenschaftlern und in Laboren, den Experimenten, an denen er persönlich teilnimmt, den Ausflügen in die Forscherbiografien vergangener Jahrhunderte, die er lebendig in sein Buch einstreut, den dutzenden von Studien, die er pointiert und eingängig zusammenfasst. Es liegt aber auch an den weiten Horizonten, die er eröffnet und die immer wieder in Bereiche weit jenseits der Biologie verweisen, zum Beispiel in eine Philosophie des Seins.
Wie können wir uns, fragt Ed Yong zu Recht, angesichts der Wolken von Einzellern in und auf und zwischen uns überhaupt noch als "Individuen" definieren? "Ökosystem" wäre ein Wort, das der Wahrheit viel näher käme. In jeder einzelnen Stunde sprüht ein Mensch 27 Millionen Bakterien in kleinen Tröpfchen beim Sprechen und Atmen in die Umgebung. Wir leben nicht nur in einem wimmelndem Netzwerk des Lebens, zeigt dieses Buch: Wir sind selbst eins.

Ed Yong: "Winzige Gefährten – Wie Mikroben uns eine umfassende Ansicht vom Leben vermitteln"
Übersetzt von Sebastian Vogel
Verlag Antje Kunstmann
448 Seiten, 28 Euro

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