Du sollst nicht stehlen – auch nicht deine Predigt

Von Michael Hollenbach · 15.09.2012
Manchmal ist der erste Schritt zur perfekten Sonntagspredigt nur ein Klick im Internet: Mit copy & paste ist schnell die eigene Predigt komplett. Plagiate sind ein Problem auch bei Gottes sprachgewandtem Bodenpersonal.
"Liebe Gemeinde, das ist ein gutes, ein schönes Zusammensein. – Liebe Gemeinde, wir begehen das Gedächtnis Jesu. – Mit dem Glaubensalltag ist das nun nicht so ganz einfach. – Weil Gottes Geist, der Jesus lebendig macht – eindrucksvoll predigte."

Jeden Sonntag werden in Deutschland mehr als 50.000 Predigten gehalten. Doch nicht jede Predigt ist originell – und nicht jede ein Original. Immer öfter bedienen sich Pfarrer bei ihren Kolleginnen und Kollegen. Im Internet kann man in einem Pfarrer-Blog das, so wörtlich, "Tagebuch eines hemmungslos Beklauten" lesen:

"Kaum zu glauben: In der Internet-Predigerszene wird geklaut, was das Zeug hält. Ich hätte das nie gedacht, wenn es mich nicht selbst erwischt hätte: Eine alte Predigt von mir erschien plötzlich als Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt."

Eine Predigt, die der bloggende Pfarrer vor Jahren als Vikar gehalten und auf seine Homepage gestellt hatte, hatte nun ein bayerischer Dekan unter seinem Namen in einer Kirchenzeitschrift veröffentlicht. Nur eine von mehreren Predigten, die der Pfarrer, der zum Plagiatjäger wurde, enttarnte. Doch dass Pfarrer bei der Predigt auf andere Texte zurückgreifen, ist nichts Ungewöhnliches, sagt der Esslinger City-Pfarrer Peter Schaal-Ahlers:

"Generell sind Plagiate erlaubt, es gibt eine lange Tradition von Übernahmen fremder Predigten, denken wir an Martin Luthers Hauspostille."

Luthers Sammlung galt den Pfarrern als Leitfaden beim Verfassen der eigenen Predigten.

Ein großer Predigtlehrer des 20. Jahrhunderts, Rudolf Bohren, hat sich auch positiv geäußert:

"Ein unbegabter Prediger aber wird mehr und besser wirken, wenn er eine gute Predigt übernimmt, als wenn er mit einer selbstgemachten scheitert."

Und heute wird jeder Prediger in Versuchung geführt. So haben die "Göttinger Predigten im Internet" monatlich 50.000 Zugriffe. Die Webmaster – drunter einige Uni-Professoren – wählen die Predigten aus. Insgesamt stehen mittlerweile Tausende von Predigten im Netz. Die Webmaster sind sehr großzügig: Jeder darf die eingestellten Predigten nutzen, wie er will:

Auch die vollständige Übernahme ist möglich. Sie müssen beim Halten der Predigt nicht auf die fremde Autorenschaft hinweisen. Indem Sie die Predigt halten, wird sie zu der Ihren.

Und Johannes Neukirch, einer der Herausgeber der Online-Predigten, die man auch auf evangelisch.de anklicken kann, ergänzt:

"Die Autoren, die bei uns schreiben, die geben ihre Predigten frei. Die sagen: Die, die ihr lest im Netz, dürft die verwenden, wie ihr wollt."

Doch die Herausgeber der Predigt im Internet wählen aus, wer mit welcher Predigt auf der Webseite erscheinen darf. Damit würden die Predigtportale – so Peter Schaal-Ahlers – zu einer Art neuem Leitmedium. Im Zeitalter der Plagiate haben die Herausgeber einen großen Einfluss darauf, was sonntags von den Kanzeln gepredigt wird. Einst kämpfte Martin Luther mit seiner Hauspostille gegen schwärmerische und sektiererische Predigten; heute übernimmt diese Aufgabe das Internet.

Früher abonnierten die Pfarrer noch Predigthefte, die ihnen Anregungen geben sollten für eine erbauliche Kanzelrede. Heute scheinen immer mehr auf copy and paste zu setzen.

"Es hat viel damit zu tun, dass das Pfarramt in den letzten Jahrzehnten mit unzähligen Aufgaben angereichert wurde und dass zu wenig Zeit da ist, aber letztendlich geht es darum: Was ist eigentlich meine Priorität und wofür nehme ich mir Zeit?"

… versucht Peter Schaal-Ahlers das Plagiieren zu erklären. Doch manche Geistliche beginnen seiner Meinung auch einfach nur zu spät mit ihren Predigtvorbereitungen:

"Ich finde, man sollte auf alle Fälle vor dem Sportstudio anfangen. Nein, Spaß beiseite…"

Er selber – so der Citypfarrer aus Esslingen – fange bereits am Montag mit den Predigtvorbereitungen an. Denn für eine gute Predigt brauche man Muße:

"Man muss zum Predigen auch in Kunstausstellungen gehen, man muss gute Bücher lesen, man muss spazieren gehen, das hat sehr viel mit Kreativität zu tun. Es gibt auch Täler, die man durchschreiten muss – das macht man nicht einfach mit zwei Klicks, sondern das ist ein ganz großer Prozess."

"Kritisieren statt kopieren" fordert der schwäbische Pfarrer von seinen Amtskollegen:

"Worunter ich sehr leide, dass wir unter Theologen keine Kultur der Predigtkritik haben – dass man sich zusammensetzt und sagt: Was ist gelungen, was ist nicht gelungen, das ist sehr eigenartig, dass wir über alles diskutieren, aber dass wir eine Kultur der Predigtkritik … und zwar nicht im Sinne von Runterputzen, sondern im Sinne von kollegialem, solidarischem miteinander-Arbeiten, das ist eigentlich bitter schade."

Das Phänomen der Plagiatpredigten fiel Schaal-Ahlers schon vor Jahren auf:

"Da habe ich eine Weihnachtspredigt gehört von einem schwäbischen Pfarrer, der ganz betulich auf der Kanzel stand, der hat auf einmal Papperlapapp gesagt, was ich, weil ich mit einer norddeutschen Frau verheiratet bin, gut kenne, dieses Wort, aber nicht aus dem Munde eines schwäbischen Pfarrers und dann habe ich nachgeguckt und festgestellt, dass die ganze Predigt eins zu eins übernommen war. Das hat mich dann doch sehr stutzig gemacht."

Schaal-Ahlers hat sich dann intensiver mit dem Kopieren von fremden Predigten befasst. Die Pfarrer hätten offenbar vor allem Probleme mit der Frohen Botschaft. So hat er beobachtet:

"Dass man immer positive Teile übernimmt, dass die Prediger offensichtlich selber große Probleme damit haben, die Dinge positiv zu sagen. Was Negatives zu entfalten, das ist ziemlich leicht, aber das Evangelium selber zu sagen, das wird oft aus anderen Predigt übernommen."

Im 7. Gebot heißt es ja eigentlich: Du sollst nicht stehlen. Dem hält der Pfarrer entgegen:

"Ich glaube, dass es eigentlich im Reich Gottes kein Eigentum an Predigtworten gibt."

Und schließlich soll Jesus seinen Jüngern gesagt haben: Umsonst habt ihr’s empfangen, umsonst gebt es auch." (Matthäus 10, Vers 8)

Peter Schaal-Ahlers ist allerdings ein leidenschaftlicher Prediger. Auch wenn er im Predigtklau kein Delikt sieht, würde er nicht plagiieren. Er muss sonntags auf die Kanzel – mit einer eigenen Predigt:

"Wenn ich das nicht mehr tun würde, dann würde ich mich selber verleugnen. So ein innerliches Ausbrennen wäre das, wenn ich keine Predigten mehr selber anfertigen würde."
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