Dramatische Flucht vor den Nazis

Von Tobias Feld · 02.11.2012
Er gehört zu den letzten Zeitzeugen des Untergangs der "Patria": der polnische Jude Fritz Sabatowski. Flüchtlinge hatten eine Bombe im Schiff entzündet, als ihnen die Einreise nach Israel verwehrt wurde. Im neuen Staate Israel begriff Sabatowski von nun an Gastfreundschaft als seine Lebensaufgabe.
"Die polnischen Wurzeln kommen von meinem Vater, der 1916 von Polen nach Deutschland kam. Meine Mutter kam als kleines Kind aus Galizien, was damals Österreich war. Sie besuchte die Handelsschule und heiratete dann meinen Vater. 1935 kamen dann die ersten Gesetze raus, die auch das Leben der ganz einfachen Leute– so wie mein Vater, dem Handwerker – beeinträchtigten."

1935, es ist das Jahr, in dem die Nürnberger Rassengesetze zur "Reinhaltung des deutschen Blutes" verkündet werden. Im Fall einer Eheschließung zwischen Juden und Nichtjuden drohen fortan Zuchthausstrafen. Millionen wurden so entrechtet, erst Fremde und zusehends Freiwild im eigenen Land:

"Keiner konnte zu der Zeit aber ahnen, was überhaupt vor sich geht. Man hörte natürlich ausländische Sender. "Der macht das nicht lange", hatte ich immer gehört. Meine Mutter kaufte sich auch manchmal den "Stürmer" – um zu wissen, was das sein soll, diese neue Bewegung."

Es war Julius Streichers Wochenzeitung "Der Stürmer", die den Weg zum Massenmord an den Juden ebnete, wie der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg später urteilte. Die bis heute kaum im geschichtlichen Bewusstsein Deutschlands gerückte so genannte "Polenaktion" bildete dann den Auftakt zur systematischen Verfolgung der Juden. Polnische Juden in Deutschland zerrte man dabei zu Tausenden in der Nacht zum 29. Oktober 1938 aus ihren Wohnungen und schaffte sie in Eisenbahnwaggons Richtung Polen. In dieser dunklen Nacht, in der die Sabatowskis bei einer Verwandten Unterschlupf finden, steht die Gestapo auch vor ihrer Wohnungstür:

"Ich bin nach Hause gelaufen und erzählte meiner Mutter, was passiert war. "Verhaftet scheinbar" … "Gestapo". Meine Mutter mit den drei Kindern – mein Vater konnte kaum noch gehen und blieb zurück – wir vier gingen zu meiner Tante, Frau Geier, Steinstraße. Und da haben wir gessen bis ein Uhr nachts, da klingelte es unten: "Aufmachen!" Da zeigte ihre Tochter den staatenlosen Pass. Denen konnte man nichts anhaben. Und dann um zehn Uhr früh hat uns jemand mitgeteilt, dass die Aktion vorüber sei."

Die Nürnberger Rassengesetze galten zunächst nicht für "Staatenlose". Im Sinne der Nazis waren sie bis auf Weiteres "rassisch nicht einzuordnen". Ein Ausbürgerungsbegehren bewahrte Familie Sabatowski so vor Verfolgung. Doch das sollte nicht so bleiben. Mit Kriegsbeginn, im September 1939, verhaftete die Gestapo Fritz Sabatowski. Minderjährig, wurde er auf Drängen des Roten Kreuzes freigelassen. Während sich bereits die Konzentrationslager mit Juden füllen, ergreift Fritz Sabatowski die Flucht, allein. Noch duldet Nazideutschland die Emigration der Juden, sofern diese sich freikaufen. "Entweder ihr verschwindet über die Donau oder in der Donau!", drohte Adolf Eichmann, der Organisator des Holocausts:

"Ich durfte im Ganzen ein Englisches Pfund mitnehmen, das waren damals zehn Mark. Am 22. Dezember sind wir dann mit dem Zug aus Wien nach Bratislava gefahren. Die Donau-Dampfschifffahrtsgesellschaften haben die in Rumänien lebenden Deutschen heim ins Reich holen müssen. Und dafür hat man uns benutzt, um den Hin- und Rückweg zu bezahlen."

1940 brechen vier Ausflugsschiffe unter der Hakenkreuzflagge donauabwärts, Richtung Schwarzes Meer auf. An Bord drängen sich über 3 000 jüdische Flüchtlinge, sie strömten bis Anfang September aus Berlin und Wien, aus Danzig und Prag zusammen. Die Situation wird nicht erträglicher, als sie im rumänischen Schwarzmeerhafen Tulcea auf drei kaum hochseetüchtigen Kähne umgeschifft werden, im Gegenteil. Die wochenlange Irrfahrt, die nun folgt, wird für die Passagiere zum erneuten Martyrium:

"In Istanbul haben sie uns gleich gesagt: "Die gelbe Fahne hissen!" - dass heißt Quarantäne, es darf niemand das Schiff betreten. Wir durften nicht an Land und da haben wir schon kein Wasser und keine Kohle gehabt und gar nüscht. Ich weiß noch einmal, das war das Schlimmste. Da hat es Nudeln gegeben, in Seewasser gekocht. Und weil das so komisch geschmeckt hat, haben sie Zucker obendrauf gegeben noch."

Wie groß mag da die Erleichterung gewesen sein, als sich für die Flüchtlinge Ende November 1940 am Horizont Eretz Israel abzeichnet, das gelobte Land. Doch dieser Flecken Erde steht unter britischer Verwaltung und heißt jüdische Emigranten nicht willkommen. Britische Kreuzer bringen die Flüchtlingsschiffe auf und geleiten sie in den Hafen Haifas. Am 20. November 1940 verkündet die Mandatsregierung, die illegalen Einwanderer bis zum Kriegsende auf Mauritius – einer britische Kolonie – zu internieren. Unter den ersten Passagieren, die dafür auf den Ozeankreuzer Patria gelangen, sind auch Mitglieder der Hagana, dem Vorläufer der israelischen Streitkräfte. Um die Deportation zu verhindern, zünden sie im Morgengrauen des 25. November 1940 im Bauch des Schiffes eine Bombe:

"Ich war mit meinem Freund ganz unten im Schiff. Dann hörten wir diesen "Boom" und guckten beide nach oben. Das Deck war schon sehr schief. "Was soll ich machen", sagte mein Freund. Sag ich: "Spring über die Reling, sofort!" Dann ist er rüber geklettert – und ich hab ihm einen Schub gegeben.

Er ist runter ins Wasser und plötzlich konnte er schwimmen. Und ich bin das Deck runter gerutscht – und rein ins Wasser. Dann kamen auch schon die Boote an, und so weiter. Das ist das einzige Bild, das ich gerettet habe. Das ist das Einzige, was ich überhaupt ... Das und 50 Pfennig habe ich in der Tasche gehabt, und zwei, drei Kronen."

260 Flüchtlinge ließen damals ihr Leben, 172 wurden verwundet. Den Überlebenden der Patria gewährte man nun Zuflucht in Palästina, die Passagiere der übrigen Ozeankreuzer brachte man jedoch nach Mauritius. Fritz Sabatowski für seinen Teil folgte nicht den Massen an Einwanderern, die Israel als ein Land der Kibbuze aufbauten. Wie viele von ihnen legte der Vertriebene seinen Nachnamen ab, und nannte sich von nun an Fritz Peretz. Um fortan als Garçon in Jerusalems altehrwürdigem King David Hotel Gastfreundschaft zu seinem Beruf zu machen.
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