Die zwei Türme

Von Beatrix Novy · 15.10.2005
Dem Kölner Dom als Weltkulturerbe könnte bekanntlich der geplante Bau neuer Hochhäuser gefährlich werden, die den Blick auf die Kathedrale empfindlich stören. Dabei ist dieser Blick auf die beiden vertrauten Türme im Kölner Gemüt fest verankert, seit sie vor genau 125 Jahren fertig gestellt wurden. Damals übrigens waren sie nicht nur in Köln die größten, sondern auf der ganzen Welt.
Die alte Stadt Köln müsste an diesem 15. Oktober 1880 eigentlich aus dem Häuschen sein: ein echter deutscher Kaiser ist zu Besuch. Aber zu Kaisern hat die Kölner Bevölkerung spätestens seit dem 13. Jahrhundert keine herzliche Beziehung mehr gehabt. Dieser hier, Wilhelm I. ist noch dazu ein Preuße. Evangelisch natürlich. Er ist gekommen, um der Erfüllung eines angeblichen Herzenswunsches aller Kölner und Deutschen Glanz zu verleihen: der Vollendung des Kölner Doms. Seit im Juli 1880 der letzte Stein auf den Nordturm gesetzt wurde, ragt die Kathedrale mit 157 einhalb Metern als höchstes Bauwerk der Welt in den Himmel; lange wird sie diesen Rekord freilich nicht halten.

Unten am Westportal steht nur ein Weihbischof, um den Kaiser zu begrüßen; der Erzbischof wurde, wie viele andere katholische Würdenträger verbannt – der preußische Staat und die katholische Kirche liegen miteinander im Kulturkampf. So kommt es, dass viele gutkatholische Kölner Bürger den Feierlichkeiten fernbleiben; aber es gibt auch Begeisterte, von denen eine Kölner Zeitung anderntags berichtet.

"Das patriotische junge Deutschland fand sich auf den öffentlichen Plätzen zusammen, um in Zügen unter Trommelwirbel und Musik, Vaterlandslieder singend, seine Umzüge zu halten."

Das deutsche Reich hatte den Kölner Dom zu einem Symbol nationaler Größe umgedeutet, die Fertigstellung der uralten Bauruine zur patriotischen Pflicht. Wie ganz anders feiert man im völlig kriegszerstörten Köln 1948 den eigentlichen Geburtstag des Doms: den Tag der Grundsteinlegung 1248.

1248 hatte Erzbischof Konrad von Hochstaden, der mächtigste Mann des Reiches, den Grundstein für die Kathedrale gelegt. Köln, reichste Handelsmetropole des Kontinents, war die erste deutsche Stadt, die dem Geist der Gotik erlag. 40 Jahre nach der Grundsteinlegung verjagten die Kölner ihren Feudalherrn, den Erzbischof, der Bau kam allmählich zum Erliegen, die Stadt verlor in den folgenden Jahrhunderten an Bedeutung und wurde zu dem rückständigen Nest, in dem die französische Revolutionsarmee die Stadtsoldaten angeblich beim Strümpfestricken antraf. Im frühen 19. Jahrhundert war dieser kulturell-klerikale Dämmerzustand Kölns für einen jungen modernen Poeten wie Heinrich Heine der Inbegriff des restaurativen Deutschland, und der Dom sein Symbol.

"Doch siehe! Dort im Mondenschein
Den kolossalen Gesellen!
Er ragt verteufelt schwarz empor,
Das ist der Dom von Cöllen.

Er sollte des Geistes Bastille sein,
Und die listigen Römlinge dachten:
In diesem Riesenkerker wird die deutsche Vernunft verschmachten!"

Andere Dichter waren angesteckt von der nationalen Idee, die durch die Befreiungskriege gegen Napoleon Aufwind bekommen hatte, Friedrich Rückert zum Beispiel:

"Der hohe Dom zu Köln!
Ein Denkmal alter Zeit
Der deutschen Herrlichkeit"

Aus dem geheimnisvollen Dom-Architekten des 13. Jahrhunderts hätte das 19. am liebsten einen Deutschen gemacht - obwohl er ebenso gut aus Frankreich gewesen sein kann - und aus dem Kölner Dom, gezeichnet nach dem Vorbild der Kathedrale von Amiens, ein Beispiel typisch deutscher Baukunst. 1814 rief der Philosoph Joseph Görres das deutsche Volk auf, dies "Denkmal deutscher Herrlichkeit" zu vollenden. Der preußische Staat beteiligte sich an dem Unternehmen, in den folgenden Jahren entstand der Dombauverein Kölner Bürger, 1842 wurde mit dem Weiterbau begonnen. Es dauerte noch einmal wechselvolle 38 Jahre, bis schließlich mit Hilfe eines profanen Glücksspiels, der Dombaulotterie, die weltberühmten Domtürme fertiggestellt werden konnten, die heute als Weltkulturerbe von der UNESCO gegen die Hochhaus-Ambitionen der Stadt Köln verteidigt werden müssen. Dabei hatten diese Türme 1880 ein anderes Wahrzeichen abgelöst: Das war jahrhundertelang der große alte Baukran über dem Kathedralentorso gewesen. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier: Als der Kran abgerissen wurde, trauerten viele ihm nach.