Die Vermessung der Literatur

19.03.2009
Offene Forschungsfragen faszinieren den italienischen Anglisten Franco Moretti. Warum etwa wechseln sich literarische Formen alle 20 bis 30 Jahre ab? Oder wie entstehen neue Genres? Moretti geht in seiner Aufsatzsammlung empirisch vor: Statistik, Geografie und Evolutionstheorie werden zu Hilfswissenschaften der Literaturgeschichte.
Die Literaturwissenschaft pflegt zumeist diesen Forschungsstil: Ein Gelehrter hat ein Lieblingsbuch, einen geschätzten Autor, eine Epoche, in der er sich zuhause fühlt. Und das Ziel seiner Forschung ist es, auf eigene Weise zu begründen, warum gerade dieses Buch, dieser Dichter, diese Epoche auch tatsächlich lesens- und liebenswert sind. Dabei liegt die Betonung auf "eigene Weise" und die Methode ist das möglichst genaue Studium der Texte. So entstehen Gelehrte, die fast alles über eine Handvoll Werke wissen und sich bei ihren Klassikern auskennen wie alte Ehepaare miteinander oder Förster in ihrem Wald.

Der italienische, in Stanford lehrende Anglist Franco Moretti macht das anders. Er nähert sich der Literatur fast wie ein Naturwissenschaftler. Mit seiner Epoche – Moretti ist Spezialist für die englische Literatur des späten 18. und des 19. Jahrhunderts – beschäftigt er sich nicht, weil er sie mag. Er mag sie, eigener Auskunft nach, nicht besonders. Aber er studiert sie, weil es über die Literatur jener Zeit besonders viele Informationen gibt, über ihre Gattungen, ihren literarischen Markt, ihre Leihbibliotheken.

Also, sagt sich Moretti, hat man gute Chancen, an dieser Zeit die Fragen zu untersuchen, die ihn beschäftigen. Das sind Fragen wie "Wie lange hält sich eine Gattung, sagen wir: der Briefroman, am Markt, bevor er durch andere in der Beliebtheit abgelöst wird?". Oder: "Warum werden wann wie viele Romane gelesen?" Oder: "Wie entsteht ein neues Genre, sagen wir: die Detektivgeschichte?" Oder: "Wann überschreiten bestimmte Gattungen die nationalen Grenzen ihrer Herkunft?"

In seinem jetzt auf Deutsch vorliegenden Aufsatzband "Kurven, Karten, Stammbäume" führt Moretti vor, wie viel man bei solchen Problemen weiterkommt, wenn man sich als Literaturwissenschaftler für formale Modelle und Zahlen zu interessieren vermag.

Nehmen wir das bloße Wachstum des Roman-Aufkommens. Um 1780 herum erscheinen zum ersten Mal mehr Romane im Jahr als ein einzelner Mensch noch lesen könnte, um 1800 wird die Hunderter-Grenze in England gesprengt. Das heißt unter anderem, dass die Bestseller von vor zwanzig Jahren alle in Vergessenheit geraten – man bekommt ja ständig neuen Lesestoff. Und auf die Idee, ein Buch zweimal zu lesen, kommen erst langsam einige - doch nie das Gros der Leser. Die Gattungen lösen sich dabei mit schöner Regelmäßigkeit ab.

Von 1760 bis 1790 dominiert der Briefroman, dann 25 Jahre lang die Schauergeschichte, dann bis 1840 der historische Roman. Vorreiter gibt es dabei zwar immer, aber, so Moretti, die Ausnahme ändert nicht das System. Je mehr Romane publiziert werden, desto weniger ausgeprägt ist aber die Dominanz einer Gattung, desto gemischter die Jahresproduktion. Und warum wechselt fast alle 25 bis 35 Jahre die führende Form? Eine offene Forschungsfrage, aber wie Moretti formuliert: Ungelöste Probleme sind das Wichtigste, was die Literaturwissenschaft braucht.

Im Kapitel über Karten zeichnet Moretti die Topographie von Dorfgeschichten, wie sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommen, um nachzuweisen, dass die Autoren ihre Handlungsfelder konzentrisch um die Mitte des Dorfes herum anordnen – ein Akt der Negation jener industriellen Entwicklung, in deren Zuge Gemeinden zu Durchgangsstationen von Waren, Migranten und Verkehrsströmen wurden.

Das Instrument der Karte hatte er schon in seinem "Atlas des europäischen Romans" genutzt, der seit einigen Jahren auf Deutsch vorliegt. Wo wohnen die Figuren Balzacs in Paris? Bis wohin in Afrika dringen die ersten Abenteuerromane der Kolonialperiode vor? Wie groß sind die Entfernungen über ihre Heimat hinaus, die von den Helden der Bildungsromane zurückgelegt werden?

Moretti beantwortet nicht jede dieser Fragen, aber er gibt uns eine Ahnung davon, wie eine Literaturwissenschaft aussähe, die solche Sachfragen behandeln würde, anstatt über der eintausendsten Studie zu Thomas Manns Künstlerbild in Abhängigkeit von seiner Schopenhauerlektüre zu sitzen.

Das Meisterstück des Bandes ist sein drittes Kapitel, das über Stammbäume. Hier zeigt Moretti, wie die klassische Detektivgeschichte in einer Sequenz von Werken entstand, in denen zunächst der Kriminalfall mit einem Spurenleser ausgestattet wurde, dann die Spuren auch dem tatsächlichen Leser mitgeteilt wurden, bis schließlich erst in einem letzten Schritt im Werk Arthur Conan Doyles sich durchsetzte, dass sie auch für den Leser zu enträtseln sein mussten.

Zuerst also gibt es nur das Verbrechen, dann das Verbrechen mit Indizien, dann Indizien, die dem Leser mitgeteilt werden und schließlich Indizien, die er selber, wenn er nur scharf genug nachdächte, entschlüsseln könnte. Und nur diese Form setzt sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch, weswegen wir von all den Autoren, die im "Strand Magazine" Kriminalstorys publizierten, nur noch die des Erfinders von Sherlock Holmes erinnern – eine Art "survival of the wittiest".

Statistik, Geographie und Evolutionstheorie sind also die Hilfswissenschaften Franco Morettis, mittels deren er uns ganz neue Blicke auf die Geschichte der Literatur ermöglicht. Nicht die Schwärmer, so liest man zwischen den Zeilen seines Buches, sondern die Empiriker werden unsere Kenntnis der Literatur vermehren.

Rezensiert von Jürgen Kaube

Franco Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte
Aus dem Englischen von Florian Kessler
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009
140 Seiten, 10 Euro