Die Sprache der Körper

Von Wiebke Hüster · 25.12.2011
Die Tanzwelt 2011 war voll von wundervollen, bedenkenswerten Premieren. Doch wer wird die großen Ballettcompagnien auf Dauer finanzieren, wenn zeitgenössische Choreografen und Ballettdirektoren fehlen? Eine Bilanz und ein Blick in die Zukunft.
Die technologischen Entwicklungen der Gegenwart bleiben nicht ohne Folgen auch für den Tanz. Manche Ballettdirektoren können auf 34.000 Facebook-Freunde ihrer Compagnie verweisen und betonen, auf die Kritik ihrer Vorstellungen komme es nicht mehr so stark an. Wichtiger sei, was die Twitter-Gewitter vermeldeten, von solchen Kommunikationsformen gingen die entscheidenden Impulse zur Formierung neuer Publikumskreise aus.

Mit gemischten Gefühlen beobachtet die Tanzwelt, wie viel in ihren Vorstellungen mit Handys fotografiert und gefilmt wird, und wie viel eigentlich urheberrechtlich geschütztes Material im Netz kursiert. Wer sich etwas Zeit nimmt, findet vor allem auf "You tube" mehr Tänze, als man in einem Leben anschauen könnte. Für das Publikum ist das andererseits häufig praktisch und nicht selten fantastisch. Zu beinahe jeder Vorstellung finden sich Ausschnitte im Netz. Auf der Suche nach Kriterien für die Entscheidung, ob man eine Choreografie anschauen soll oder nicht, dürften You Tube-Besuche inzwischen zum Hilfsmittel Nummer eins geworden sein.

Noch besser ist es, Stücke anschauen zu können, die man niemals im Theater würde sehen können - entweder weil die Theater in einem weit entfernten Land oder Kontinent liegen, oder weil man eine Zeitreise unternehmen müsste, um die Inszenierung zu erleben.
Auf ähnliche Begeisterung stoßen die Live-Übertragungen der großen Ballettcompagnien in Kinos in aller Welt.

Weniger erfreulich ist, dass einige Choreografen mit der Zugänglichkeit und Verfügbarkeit tänzerischen Schrittmaterials moralisch und juristisch nicht einwandfrei umgehen. Das betrifft vor allem Inszenierungen von Klassikern des Ballettrepertoires. Wer Giselle oder Dornröschen auf den Spielplan setzen wollte, musste bis vor wenigen Jahren umständliche und mühevolle Recherchen anstrengen - nach St. Petersburg reisen oder die Harvard Library aufsuchen.

Rekonstruktion ist in der Tanzwelt stets unerbittlicheren Kriterien nach Authentizität unterworfen worden. Bis das You Tube-Zeitalter voll durchschlug. Was die jungen Choreografen und Ballettdirektoren tun, die eigentlich gar keine Lust haben, sich mit dem Erbe auseinanderzusetzen, und auch meinen, sie müssten nur für den Massengeschmack und den Kartenverkauf "La bayadère" ansetzen, heißt Videoshopping. Man klaut sich seine Version von "Dornröschen" einfach auf You Tube zusammen.

Noch jemanden scherte gleich zu Beginn des Jahres der tänzerische Ruhm einer anderen Person herzlich wenig. Natalie Portman, die in Darren Aronofskys Hollywood-Thriller "Black Swan" eine psychisch labile Ballerina spielt, deren Wahnvorstellungen die Leinwand füllen, mochte der Tänzerin Sarah Lane, von der sie in mehr als neunzig Prozent der Tanzszenen gedoubelt worden war, dafür so recht keine Credits geben. Man verbot der 26-jährigen Tänzerin vom American Ballet Theatre in New York, Interviews zu geben, bis, ja, bis Natalie Portman den Oscar dann gewonnen hatte - weil Oscars gerne an Schauspieler vergeben werden, die etwas leisten, das nicht innerhalb ihres erwartbaren Spektrums an Können liegt.

Dabei war die Tanzwelt in diesem Jahr auch ohne solche Skandale reich an wundervollen, bedenkenswerten Premieren. Starballerina Sylvie Guillem gab an der Mailändern Scala ihre gefeierte Abschlussvorstellung als "Manon". Jean-Guillaume Bart, noch junger Ballettmeister an der Pariser Oper, rekonstruierte und erschuf neu mit "La Source" ein verloren geglaubtes Ballett des neunzehnten Jahrhunderts. Martin Schläpfer legte mit dem Ballett am Rhein Düsseldorf/Duisburg eine grandiose zweite Spielzeit hin, mit dem "Deutschen Requiem" von Johannes Brahms als Höhepunkt - seine Compagnie ist auch die Compagnie des Jahres, gälte es, eine solche zu krönen.

Die These der Uraufführung "Ein Deutsches Requiem" lautet: Wenn Johannes Brahms nicht mehr an die Unsterblichkeit der Seele glaubte und noch weniger an die Hölle, und es im 19. Jahrhundert schien, als löste die Kunst die Religion als Transzendenz-Medium ab, dann ist Martin Schläpfers Reaktion auf diese Musik darum eine entsprechende - seine Generation von Choreografen thematisiert doch eher die Zweifel an einer quasi-religiös befrachteten Kunst und reflektiert ästhetische Positionen der Moderne, die anscheinend schwer zu überwinden sind - wie Paul Chalmers brillante "Schwanensee"-Phantasie - "Il lago die cigni - lo scandalo Caikowsky" zeigte.

So ist 2011 nicht nur das Trauerjahr, in dem die Merce Cunningham Dance Company ihre Vermächtnistournee zwei Jahre nach dem Tod des Tanzrevolutionärs testamentsgemäß beendet und sich auflöst. Oder das Jahr, in dem das Tanztheater Wuppertal zwei Jahre nach dem Tod von Pina Bausch noch immer nicht eine Choreografie von jemand anderem einstudiert hat. Ganz sicher ist 2011 ein Jahr, in dem sich der Tanz einer wachsenden Öffentlichkeit sicher sein konnte und mit herausragenden Produktionen weltweit neues Publikum gewann. Darüber darf nicht vergessen werden, dass in naher Zukunft Entscheidungen anstehen von großer Bedeutung für diese empfindliche und voraussetzungsreiche Kunst:

Wer wird die großen Ballettcompagnien auf Dauer finanzieren, wenn für sie zeitgenössische Choreografen und Ballettdirektoren fehlen, deren Werke über eine Saison hinaus Gültigkeit behalten? Oder konkreter gefragt - Wieso muss im kommenden Jahr der Verwaltungsdirektor des Royal Ballet in London die Leitung der Comaognie übernehmen, was wird Ballettmeister Laurent Hilaire in Zukunft aus dem Ballett der Pariser Oper machen, wer wird Crankos Erbe in Stuttgart wieder aufleben lassen, wenn Reid Anderson endlich Platz macht, wer wird John Neumeier in Hamburg beerben und dort endlich wieder andere Choreografen präsentieren? Die Gegenwart kennt vielleicht die besten Tänzer aller Zeiten. Aber wer sie in die Zukunft führen wird, ist vielerorts ganz ungewiss.
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