Die Spekulation auf den Staat

Von Dieter Rulff · 26.11.2008
Erinnern Sie sich noch an "Florida-Rolf"? Jenen Sozialhilfeempfänger, der sich seinen Aufenthalt im sonnigen Süden der USA finanzieren ließ, indem er die Möglichkeiten des deutschen Sozialrechts ausnutzte. Er lag buchstäblich in der sozialen Hängematte und wurde so 2003 zum Sinnbild der Fehlentwicklungen des sozialen Versorgungssystems, als es darum ging, dieses System durch die Hartz-Reformen zu renovieren.
Im Jahr 2008 steckt nicht mehr das Sozialsystem in einer Krise, sondern das Finanzsystem. Der "Florida-Rolf" des Jahres 2008 heißt Adolf Merckle. Er ist mehrfacher Milliardär und Eigner eines ganzen Konglomerats von Firmen. Merckle hat sich am Aktienmarkt verspekuliert, wie so viele in den letzten Monaten. Merckle spekuliert nun auf die Unterstützung des Staates, wie etliche in diesen Tagen. In Rede steht eine Bürgschaftssumme von eine Milliarde Euro. Nun, darin unterscheidet sich Adolf Merckle immerhin von Florida Rolf, bei dem ging es nur um ein paar Tausender.

Merckle bekommt womöglich diese Unterstützung, das würde seinen Fall in der Tat herausheben. Denn genau genommen verlor Merckle sein Geld nicht in der Finanzkrise, wie etwa die Abertausenden von amerikanischen Häuserbesitzern, die ihren finanziellen Leitsinn mit einer Zwangsversteigerung bezahlten, nicht wie die Investmentbanker, die in ihrer gierigen Dummheit mit faulen Krediten dealten. Merckle spekulierte, als sich alle bereits die Finger verbrannt hatten. Deren Erfahrungen hätten ihm Warnung sein können. Nun ist er auch danach bei weitem nicht so arm wie Florida-Rolf, will aber wie dieser die Hilfe des Staates.

Es gibt noch einen entscheidenden Unterschied zwischen den Beiden. Während der Staat bei Florida-Rolf kurzerhand die Gesetze änderte, um den Schaden zu minimieren und ihm kein Geld mehr zahlen zu müssen, sieht er sich bei Merckle genötigt, diesem Geld zu geben um den Schaden zu minimieren. Das ist der Unterschied zwischen arm und reich.

Merckle wird nachgesagt, sein verschachteltes Firmenimperium genutzt zu haben, um sein beträchtliches Einkommen möglichst steuermindernd zu mehren. Merckle ist also die Verkörperung dessen, was der Bundesfinanzminister Peer Steinbrück vor Augen hat, wenn er die Entsolidarisierung der Besserverdienenden, den Egoismus und die um sich greifende Gier eines Teils der Wirtschaftselite anprangert. Diese würden das Gerechtigkeitsgefühl der gesellschaftlichen Mitte schwer verletzen.

Das Erstaunliche ist: Obgleich diese Verletzung zweifelsohne gravierend ist, schweigt diese Mitte bislang, wie auch der untere Teil der Gesellschaft sich erstaunlich ruhig verhält. Das mag zum einen daran liegen, dass ihnen zügig klargemacht wurde, dass die Krise der Ackermanns und Merckles auch ihre Krise ist, deren Einkommensverlust ihren Jobverlust bedeutet. Es gibt einfach Ungerechtigkeiten, die sind so schreiend, dass sie sprachlos machen.

Das mag zum anderen daran liegen, dass diese Mehrheit der Gesellschaft die Hoffnung des Finanzministers nicht mehr teilt, dass der obere Teil sich noch auf das Gemeinwohl und die soziale Marktwirtschaft verpflichten lasse.

Denn die Repräsentanten der Banken und der Wirtschaft haben in den letzten Wochen vieles erkennen lassen: eine erschreckende Unkenntnis des eigenen Metiers, die jeden Handwerker sofort seinen Meisterbrief gekostet hätte; eine völlige Missachtung des Preis-Leistungsverhältnisses bei der Bemessung der eigenen Vergütung und schließlich eine ostentative Zurückhaltung, als es darum ging, Lehren aus den eigenen Fehlern zu ziehen.

Sie haben eines nicht erkennen lassen: dass sie ihrer Rolle als Elite dieser Gesellschaft in irgendeiner Weise gerecht werden. Welcher Banker hat bislang dem Steuerzahler begründet, weshalb er dessen Gelder haben will und was er ihm zum Ausgleich anbietet? Welcher hat erklärt, was er in Zukunft anders machen will?

Stattdessen haben sie die Politiker vorgeschickt, damit diese die eigenen Verluste in die gesellschaftliche Währung Arbeitsplatz umrechnen und so den einseitigen Handel schmackhaft machen.

Dieses kommunikative Versagen der Wirtschaftselite ist umso eklatanter, als sie noch vor Jahren als Leitfiguren einer sich globalisierenden Gesellschaft gefeiert wurde. Der unternehmerische Einzelne war der Phänotyp des aufbrechenden Jahrtausends. Ein Schumpeterscher Held der schöpferischen Zerstörung. Er ließ die Intellektuellen, die zuvor über drei Jahrzehnte das diskursive Feld der Republik dominiert hatten, schmalbrüstig aussehen. Schon damals hätte auffallen können, dass diese Elite gesichtslos ist und sich ihre schöpferische Zerstörung vornehmlich gegen den Staat richtet – den sie nun zur Hilfe rufen.

Mit ihrem schmählichen Abgang kommen allerdings nicht wieder der kritische Künstler und der radikale Intellektuelle auf die Bühne der Republik zurück. Zeiten der Krise sind selten Zeiten des Pathos und der großen gesellschaftlichen Entwürfe. Es ist vielmehr die Stunde des Skeptikers, der im erzwungenen Wandel Sicherheit gibt. Es ist die Stunde des politischen Pragmatikers vom Schlage eines Peer Steinbrück. Diese Krise ist die Stunde der Politik und das ist bislang das einzig Gute, was man von ihr sagen kann.
Dieter Rulff, Journalist, Jahrgang 1953, studierte Politikwissenschaft in Berlin und arbeitete zunächst in der Heroinberatung in Berlin. Danach wurde er freier Journalist und arbeitete im Hörfunk. Weitere Stationen waren die "taz" und die Ressortleitung Innenpolitik bei der Hamburger "Woche". Vom März 2002 bis Ende 2005 arbeitete Rulff als freier Journalist in Berlin. Er schreibt für überregionale Zeitungen und die "Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte". Ab 1. Januar 2006 Redakteur der Zeitschrift "Vorgänge".
Dieter Rulff
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