"Die RAF ist nicht aus dem Nichts entstanden"

Moderation: Joachim Scholl · 18.10.2007
Dreißig Jahre nach dem "Deutschen Herbst" hat der damalige Regierungssprecher Klaus Bölling die harte Haltung der Regierung Schmidt während der Entführungen von Arbeitgeberpräsident Schleyer und der Verkehrsmaschine "Landshut" verteidigt.
Nachrichtenmeldung: "Die von Terroristen in einer Lufthansa-Boeing entführten 86 Geiseln sind alle glücklich befreit worden."

"Die Geiseln von Mogadischu sind frei. Wir danken den tapferen Männern der Gruppe 9 des Bundesgrenzschutzes, die für die Geiseln, für die Besatzung der Lufthansa-Maschine und in Wahrheit für die Gesamtheit unserer Bürger ihr Leben gewagt haben."

Joachim Scholl: Regierungssprecher Klaus Bölling am 18. Oktober 1977 mit der erleichternden Meldung, die Geiseln der Landshut sind frei. Heute auf den Tag, 30 Jahre danach, ist Klaus Bölling bei uns im Radio-Feuilleton. Willkommen! Ich grüße Sie, Herr Bölling.

Klaus Bölling: Guten Tag, Herr Scholl!

Scholl: Was geht Ihnen durch den Kopf, durch den Sinn, wenn Sie diese, Ihre eigenen Sätze hören?

Bölling: Das Wort kam eben schon vor. Wir waren ungemein erleichtert, denn wir waren ja, uns schien es ewig lang zu sein, Tage von der Sorge bedrückt, dass es nicht gelingen werde, die Menschen, die Touristen, die Flugbegleiter, den Piloten tatsächlich vor dem fanatischen Verbrechenswillen der palästinensischen Entführer der Landshut zu bewahren.

Das hat uns psychisch ungeheuer niedergedrückt, weil wir zunächst fürchten mussten, dass die palästinensischen Terroristen, die die Gewalt über die Landshut hatten, völlig unberechenbar seien. Sie hatten schon den Piloten der Landshut erschossen auf eine wirklich viehische Weise.

Scholl: Jürgen Schumann.

Bölling: Ja, Schumann. An der Brutalität dieser zwei Männer und zwei Frauen war überhaupt nicht zu zweifeln. Nun mussten wir die ganz, ganz schwere Entscheidung treffen. Versuchen wir die Menschen zu retten? Das war nur möglich durch eine Erstürmung der Landshut.

Es war eine, ich zögere zu sagen, glückliche Konstellation, dass eine Spezialtruppe des Bundesgrenzschutzes für solche Situationen ausgebildet war, und dass die jungen Männer unter dem Kommando von Oberst Wegener just an dieser Maschine, an diesem Typ der Lufthansa, schon eine solche Erstürmung geübt hatten.

Es ist nicht so gewesen, dass wir russisches Roulett gespielt haben. Es gab eine gute Chance. Es wäre leichtsinnig zu sagen, die Chancen standen 55 zu 45. Aber das große Problem war, dass man die Regierung in Mogadischu davon überzeugen müsse, dass die das mit ihren Leuten, die keine Ahnung hatten, wie man das macht, uns verständigen mussten, dass sie uns, einer ausländischen Macht, die Erlaubnis geben, das in eigener Hand zu machen. Das waren qualvolle Stunden, ein Schicksalstag.

Scholl: Lassen Sie uns noch mal über die Wochen zuvor sprechen. Heute sind diese 44 Tage, vom 5. September an, der Entführung Hanns Martin Schleyers, bis zum 18. Oktober Gegenstand schon zahlloser Publikationen und auch historischer Interpretationen geworden. Da fallen Worte wie "Staatskrise", "Ausnahmezustand".

Wenn Sie zurückdenken, Klaus Bölling, als Beteiligter, schildern Sie uns doch einmal vielleicht das Klima, die Atmosphäre, wie sie im Kanzleramt unter den Protagonisten, dem Krisenstab, geherrscht hat. Es gab die sogenannte kleine Lage, wie ich gelernt habe, die Beratung im engeren Kreis, dann die "große Lage". Das waren bis zu 20 Personen, die dann zusammenkamen. Man hat das Wort "Krisenstab" vermieden damals.

Bölling: Nein. Das irritiert die Öffentlichkeit. Aber das ist eine eher unwichtige, semantische Sache. Die Bevölkerung hat schon nach der brutal ausgeführten Entführung von Hanns Martin Schleyer in Köln am 5. September gespürt, hier gibt es etwas ganz Neues. Hier gibt es eine Bedrohung. Das ist eine Bedrohung unserer demokratischen Ordnung, nicht nur des Präsidenten des Deutschen Arbeitgeberverbandes, Hanns Martin Schleyer.

Die Brutalität, mit der in Köln gleich vier Menschen niedergeschossen worden sind, das alles war genau geplant. Die RAF-Leute wollten nicht nur Macht demonstrieren und Schleyer in ihre Gewalt bringen. Sie haben damit gerechnet, dass es Tote geben werde.

Eines ist, glaube ich, ganz wichtig, 30 Jahre später zu sagen, wenn da kritisiert wird, der Staat habe überdreht, habe übersteigert. Wir waren nicht konfrontiert in der Zeit vorher mit solchen terroristischen Bewegungen, wie es sie in Nordirland gab. Auch hatten wir keine Erfahrung wie die Spanier mit der ETA.

Wir waren allerdings gewarnt dadurch, dass im April 1975 die RAF die deutsche Botschaft erstürmt hatte, auch mit dem Ziel, die Gefangenen in Stammheim freizupressen.

Scholl: Helmut Schmidt hat in einem Interview im August mit der "Zeit" gesagt, damals ,die Entführung 1975, war für ihn die künftige Entscheidung zu treffen, keine Verhandlungen mit Terroristen. Eine harte Handlung. Diese harte Haltung ist vielfach kritisiert worden oder wird eben jetzt auch wirklich historisch noch aufgearbeitet.

Helmut Schmidt hat auch interessanterweise in jenem Interview zur Begründung gesagt, wir waren an Krisensituationen gewohnt. Wir sind alle aus der Kriegsgeneration gekommen. Wir haben alle auch tödliche Entscheidungen manchmal fällen müssen. Wir waren sozusagen abgehärtet.

Sie, Klaus Bölling, sind ein bisschen jüngerer Jahrgang. Sie mussten nicht in den Krieg. Wie haben Sie das damals empfunden, diese Diskussion um die Frage, bleiben wir hart oder geben wir nach?

Bölling: Ich gehöre doch zur Kriegsgeneration. Ich habe das Glück gehabt ...

Scholl: ... dass Sie nicht in den Krieg mussten?

Bölling: Ja, dass ich nur als Flagghelfer hier in Berlin an einer großen Kanone stand. Aber meine Klassenkameraden haben hier auch in Lichterfelde Menschen ausgegraben, die durch Bombenangriffe ums Leben gekommen sind. Nein, ich hatte wie meisten Angst.

Wir haben vielleicht die Gefahr, die von der RAF ausging, damals überschätzt. Das kann man später vielleicht so sehen. Ich glaube nicht, dass wir grundsätzlich etwas falsch gemacht haben. Denn es gab, wir haben eben davon gesprochen, den ganz brutalen Überfall auf die deutsche Botschaft. Zwei deutsche Diplomaten, völlig schuldlose Menschen, sind damals hingerichtet worden. Das war die Terminologie der RAF.

Eines gilt auch heute nach 30 Jahren: Wenn man den Forderungen von Terroristen nachgibt, dann muss man gewärtigen, dass, wenn sie freigelassen worden sind, sie zum terroristischen Geschäft zurückkehren. Das haben wir erlebt, als hier in Berlin die "Bewegung des 2. Juni" den CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz entführt hatte.

Da gab es ein Gespräch zwischen Helmut Schmidt, dem Berliner Regierenden Bürgermeister Schütz und Helmut Kohl. Kohl und Schütz sagten, wir müssen nachgeben. Beide waren mit Lorenz, einem Ehrenmann, gut befreundet. Schmidt war dagegen. Aber er unterlag. Er ist nicht förmlich abgestimmt worden. Dann hat der Pfarrer Albertz, damals Bürgermeister in Berlin, die Männer des 2. Juni in den Jemen begleitet. Die sind auch zurückgekommen.

Scholl: ... und haben ihr terroristisches Verbrechen weiter fortgesetzt.

Bölling: Richtig.

Scholl: Herr Bölling, lassen Sie noch mal auf den Tag und die Nacht des 18. Oktober zurückkommen. Es war ja ein Tag, an dem, wie man heute sagt, der sogenannte Deutsche Herbst kulminierte und auch endete in gewisser Weise.

Auf die Meldung der Befreiung der Landshut folgte in der Nacht die Nachricht vom Selbstmord der RAF-Häftlinge in Stammheim. Wie hat man das damals in Bonn aufgenommen?

Bölling: Keiner möge nach so langer Zeit glauben, dass da irgendjemand gesagt hat: Na ja, die haben sich selbst gerichtet. Das ist dann halt so. Das war schwer bedrückend. Denn jedes Mal, wenn ein Menschenleben durch einen Suizid endet, muss man sich natürlich fragen, was hat dazu geführt.

Man darf auch nicht nach drei Jahrzehnten vergessen, die RAF ist nicht aus dem Nichts entstanden. Das geht zurück bis zu dem schrecklichen Tod von Benno Ohnesorg in Berlin 1963. Man muss bedenken, dass die RAF natürlich eine Protestbewegung gegen den grausamen Vietnamkrieg gewesen ist.

Nur das alles rechtfertigte nicht, dass die RAF dann Menschen ermordet hat, die keinerlei Verantwortung für den Krieg in Vietnam hatten. Terrorismus ist etwas anderes als Tyrannenmord. In der Geschichte gibt es den Tyrannenmord. Es wäre moralisch auch nicht anfechtbar gewesen, wenn die Männer des 20. Juli einen Diktator wie Hitler umgebracht hätten.

Aber hier zielte der Terrorismus von Meinhof, Ensslin, Baader, Raspe gegen Leute, die dafür überhaupt keine Verantwortung hatten. Sie glaubten, sie müssten Deutschland und die Arbeiterklasse, die es damals kaum noch gab, von einer rigorosen, gnadenlosen Repression und Ausbeutung schützen. Aber in Deutschland stand die ganz große Masse der Arbeitgeber oder damals schon Arbeitnehmer gegen diese jungen Leute.

Scholl: Helmut Schmidt sagte, ich bin in Schuld verstrickt, wenn es um den Tod von Hanns Martin Schleyer geht. Diese Schuld wird mir niemand mehr abnehmen, weil Hanns Martin Schleyer starb. Es gibt ein eindrucksvolles Foto, wie Helmut Schmidt neben der Witwe von Schleyer und dem Sohn sitzt.

Bölling: In Karlsruhe, ja.

Scholl: Ein ziemlich ermatteter Mann, und ich wollte Sie fragen, Klaus Bölling, wenn Sie ein Fazit ziehen aus diesem Kapitel auch Ihrer Biographie dieser Tage: Würden Sie eine Überschrift finden?

Bölling: Es gibt keinen Königsweg, Herr Scholl. Ich habe Hanns Martin Schleyer gekannt. Auf einer Reise von Bonn nach Amerika habe ich mit ihm viele Stunden gesprochen und habe ein anderes Bild von Schleyer gewonnen, als Ulrike Meinhof und die anderen. Er war ein überzeugter junger Nazi. Daran gab es keinen Zweifel.

Aber er war als Vorstand bei Daimler-Benz ein Mann, der mit dem Betriebsrat gut umgehen konnte. Er war kein Prototyp des Ausbeuters. Ich kann mich noch heute in seine Situation versetzen. Ich kann auch verstehen, dass die Familie von Schleyer - ich hätte da nicht anders gehandelt. Wenn Schleyer mein Vater gewesen wäre, dann hätte ich auch gesagt, der Staat soll hier nicht die großartige Staatsräson vorführen, sondern er soll daran denken, in der Verfassung steht Artikel 1, die Würde des Menschen ist unantastbar.

Ich hätte als Sohn gesagt, lieber Herr Bundeskanzler, Prinzipienstärke wunderbar, aber hier geht es um meinen Vater. Lassen Sie die Leute raus und versuchen Sie, sie nachher wieder zu kriegen. Solche Gefühle haben wir, glaube ich, damals alle gehabt, vor allem Helmut Kohl, der mit Schleyer sehr eng befreundet war.
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