Die Memoiren von Péter Nádas

Ein Plädoyer gegen den Hass

Der ungarische Autor Péter Nádas
Der ungarische Autor Péter Nádas © imago/ZUMA Press
Von Tobias Wenzel · 10.10.2017
Hier vermischt sich die Freude über den Eismann mit der Erinnerung an den Geruch von Leichen und Urin. Der ungarische Autor Péter Nádas blickt in seinen Memoiren "Aufleuchtende Details" nicht nur auf seine Kindheit zurück.
Péter Nádas sitzt im Salon eines Frankfurter Hotels und blickt kurz auf die Schuhe seines Gegenübers. Der ungarische Autor lächelt höflich, aber seine Enttäuschung über diese Freizeitschuhe, die stark abfallen im Vergleich zu seinen auf Hochglanz polierten schwarzen Lederschuhen, kann er nicht ganz verbergen. Péter Nádas hat, lernt man aus seinen Memoiren, das "Gefühl für den Schuh". Allgemein und im Besonderen:
"Dann bekomme ich Herzklopfen, wenn ich richtig schöne Frauenschuhe sehe. Mich hat immer interessiert, wie das andere Geschlecht geht. Meine Mutter erwartete ein Mädchen. Das hat mich betroffen gemacht, dass ich als Junge nicht erwartet wurde. Deswegen interessierten mich als Kleinkind die schönen, hochhackigen Damenschuhe."
Auf solch ein Glücksgefühl stößt man in den Memoiren sonst nur dort, wo Péter Nádas beschreibt, wie er als Kind, noch im Einfluss einer Hirnhautentzündung, von der Schönheit eines Scheinwerferlichts im Dunkel berührt wird. Ansonsten wirkt das rare Glück getrübt. Die Freude daran, kurz nach dem Ende der Belagerung Budapests, den Eismann zu beobachten, vermischt sich, jedenfalls in der Erinnerung, mit dem Geruch nach Leichen und Urin.

Anspielung auf Marcel Proust

Natürlich füllt Péter Nádas rückblickend die Erinnerungslücken mit einfühlenden Interpretationen und beschreibt die frühe Entwicklung seines Bewusstseins mit Begriffen, über die er als Kleinkind noch gar nicht verfügte. Das aber wiederum reflektiert Nádas. Seine Memoiren sind somit auch ein Nachdenken über das Erinnern selbst, mit einer Anspielung auf Marcel Proust:
"Meine Proust’sche Madeleine ist vielleicht der Zweite Weltkrieg. Also diese Kriegsbilder, die ich in mir trage und nach denen ich immer wieder gefragt habe. Meine erste Erinnerung ist ein Bombenangriff. Und durch diesen Bombenangriff sind wir mit meiner Mutter in eine Wand geschleudert worden."
Obwohl er da, als die Alliierten 1944 das Budapester Mietshaus bombardieren, erst zwei Jahre ist, scheint ihm ein starkes Detail davon im Gedächtnis geblieben zu sein: "ein im Dunkel […] aufleuchtender Treppenabsatz". Und so hangelt sich der ungarische Autor in "Aufleuchtende Details", diesen brillant geschriebenen, tief berührenden Erinnerungen, anhand von solchen prägnanten Erinnerungsfetzen assoziativ durch sein Leben.
Am 14. Oktober 1942 wird Péter Nádas in eine kommunistische und jüdische, aber vor allem agnostische Familie geboren. Am selben Tag ermorden Nazis im polnischen Ghetto von Misotsch fast 2000 Juden. Eine für Péter Nádas unerträgliche Gleichzeitigkeit von Massenmord und eigener Geburt:
"Wieso verhedderte ich mich nicht in die Nabelschnur. […] Meine Mutter hätte doch sehen können, in was für eine Welt sie mich hinausstieß. […] Wieso steckte sie nicht eine Stricknadel hoch."

"Das ist ganz einfach Realismus"

"Das ist keine Gnadenlosigkeit. Das ist ganz einfach Realismus. Also meine Eltern haben sich geliebt. Und sie haben etwas ganz Unvernünftiges gemacht. Und das Ergebnis dieses Unvernünftigen bin ich. Und das ist eine ziemlich große Belastung, was ich ein Leben lang deswegen ertrage."
Als Schriftsteller dürfe er nicht vergessen: weder die Gräueltaten der Nazis noch die kommunistische Diktatur. Und so sind seine Memoiren indirekt auch ein Plädoyer für die Demokratie und gegen den Hass: Wieso kann ein Turnlehrer, der über die Eleganz der fliegenden Körper wacht, plötzlich so brutal werden, dass er einen am Boden liegenden Schüler mit Füßen tritt? Das ist eine der vielen Fragen, die sich Péter Nádas gestellt hat, bis zur Schmerzgrenze.
Schon als Jugendlicher war er Vollwaise, nach dem frühen Tod der Mutter und dem Selbstmord des Vaters, der sogar mit dem Gedanken spielte, seine beiden Söhne vorher umzubringen. Vorwürfe macht Péter Nádas weder seinen Eltern noch sonst jemandem. Alles in seinem Leben sei so geschehen, wie es habe geschehen müssen, schreibt er. Nur dass er nicht Tänzer geworden sei, tue ihm leid. Seine Eltern weigerten sich, ihm Geld für den Ballettunterricht zu geben:
"Alle Tänzer sind Schwule, dachte man damals. Ich sehe Tänzer sehr gern. Aber ich bin nicht Tänzer geworden. Und wahrscheinlich ist es gut, dass ich kein schlechter Tänzer geworden bin."
Oder hätte vielleicht doch ein großer Tänzer aus ihm werden können? Denkt man, während man diesen feingliedrigen Mann betrachtet und die perfekten schwarzen Schuhe und sich vorstellt, wie er damit tanzt und in die Luft springt.

Péter Nádas: Aufleuchtende Details. Memoiren eines Erzählers.
Aus dem Ungarischen von Christina Viragh.
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
1280 Seiten, 39,95 Euro

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