Die Klarheit des Denkens lernte Europa vom Katholizismus!

Von Rainer Kampling · 05.09.2011
Wo man nicht weiß, worin die Würde des Menschen begründet ist, steht diese selbst auf dem Spiel. Dies ist ein nicht geringes Geschenk des Katholizismus - nämlich die Frage nach dem Wert des Menschen in das Denken und Bewusstsein eingeschrieben zu haben, meint Rainer Kampling.
In diesen Tagen zeigt sich der Katholizismus als eine Kirche, die hierarchisch auf das Papstamt ausgerichtet ist, und als eine Glaubensgemeinschaft, welche dem Feiern und den Festen zugetan ist. Was sich da zeigt, wäre zu wenig. In solchen Tagen ist daran zu erinnern, dass die römisch-katholische Kirche die Geschicke dieses Kontinents im Guten wie im Bösen mitgeprägt hat. Eine europäische Geschichte seit der Spätantike kann ohne sie nicht geschrieben werden.

Und auch wenn unbestreitbar gilt, dass viele Ideale der demokratischen Gesellschaft zunächst gegen die Kirche durchgesetzt werden mussten, so gilt doch zugleich, dass sich eben diese Ideale in einem christlich geprägten Kontext entwickelt haben.

Fast in kollektive Vergessenheit ist es geraten, dass über Jahrhunderte hinweg bis zu Beginn der Neuzeit das europäische Denken zugleich theologisches Denken war. Es war eine strenge Schule, durch die dieses Denken ging. Sie hatte ja immer mit den letzten Fragen zu tun, unbeschadet, ob man nun über den Menschen, seine Welt oder seine Schöpfung verhandelte. Keines dieser Themen konnte rein weltlich gedacht werden. Jedes öffnete sich dem, was über den Menschen hinaus verweist.

Notwendigerweise gehörte zu einem solchen Denken eine Genauigkeit und Stringenz der Begriffe, um das Eine vom Anderen trennen zu können - das Diesseits vom Jenseits, das Irdische vom Himmlischen. Gerade weil man den Menschen in Beziehung zu Gott dachte, musste die Sprache so klar sein, dass beide in ihrem je eigenen Sein erkennbar blieben.

Gewiss könnten sich heutige Leser und Leserinnen solcher Texte der katholischen Theologie verwundern über den Eifer und bisweilen auch den Streit um Worte und Begriffe. Dass da manches zum spielerischen Selbstzweck wurde, kann man kaum übersehen. Und doch zeigt sich selbst im Spiel mit den Worten noch ein Bemühen um Sprache, Verstehen und Verständigung.

Diese Klarheit des katholischen Denkens kann durchaus Respekt abnötigen, ja ein Unwohlsein auslösen. Denn heute wird die Bedeutung selbst zentraler Begriffe fast beliebig geändert, hat nicht nur der öffentliche Bereich verlässliche Sprache verloren, ist selbst die Erinnerung daran verschwommen, wie einst Sprache verantwortlich gebraucht worden ist. Freilich war in früheren Zeiten auch der Vers aus dem dritten Kapitel des Jakobusbriefes bekannter: "Wer im Umgang mit dem Wort nicht versagt, der ist ein vollkommener Mann."

In nicht geringem Maße diente die sprachliche Feinheit der Kunst des Unterscheidens. Es ging auch um die Unterscheidung zwischen dem Bleibenden und dem geschichtlich Änderbaren. Dabei ist das Bleibende nicht etwa das, was übrig bleibt in den Zeiten, noch ist es das, was es immer schon gab und darf nicht mit der Gewohnheit verwechselt werden.

Es geht im Letzten darum, was den Menschen ausmacht und ihm als Mensch unveräußerlich zukommt. Die Antwort des Katholizismus und aller anderen christlichen Kirchen ist es, dass jeder Mensch in seiner Verwiesenheit auf Gott lebt, ihm mithin die Sehnsucht nach dem ganz Anderen wesenhaft zu Eigen ist. Das Bleibende des Menschen ist er selbst vor Gott.

Gewiss wird diese christliche Antwort, die auf Gott verweist, von vielen nicht geteilt. Damit ist aber die Frage nicht abgetan. Eine Gesellschaft, die nicht mehr nach dem Bleibenden fragen würde, täte sich schwer, die ungeteilte Geltung der Menschenrechte zu vertreten und zu verteidigen. Dort, wo man nicht weiß, worin die Würde des Menschen begründet ist, steht diese selbst auf dem Spiel.

Dies ist ein nicht geringes Geschenk des Katholizismus, nämlich die Frage nach dem Bleibenden, nach dem Wert des Menschen in das Denken und Bewusstsein eingeschrieben zu haben.


Rainer Kampling, katholischer Theologe, geboren 1953 im Münsterland. Studium der Katholischen Theologie, Lateinischen Philosophie und Judaistik. Seit 1992 Professor für Biblische Theologie und Neues Testament an der Freien Universität Berlin, Initiator und Leiter des Ernst-Ludwig-Ehrlich-Masterstudiengangs Geschichte, Theorie und Praxis der Jüdisch-Christlichen Beziehungen.
Kampling, Rainer
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