Die Kirche und die Mafia

Von Thomas Migge · 11.12.2010
Die katholische Kirche in Italien hat die Mafia in der Vergangenheit nie entschieden verurteilt. Erst seit einigen Jahren kämpfen ganz offen mutige Geistliche gegen die Bosse und ihre Clans.
Neapel, Centro storico, historisches Zentrum und Zentrum des städtischen Verkehrs. Chaos und Lärm, verfallende barocke Kirchen, Müllhaufen, die sich bis zu zwei Meter hoch türmen.

In der Strassa Vico dei Tessitori erhebt sich Santa Chiara, eine Kirche aus dem 18. Jahrhundert: die Fassade ist heruntergekommen und seit Langem nicht mehr restauriert. Der Innenraum ist nackt. Diebe haben die Skulpturen und alles, was nicht niet- und nagelfest war, gestohlen.

Die Kirche sieht verlassen aus, aber der Eindruck trügt. Sie ist eines der städtischen Zentren im Kampf gegen die lokale Mafia, die in Neapel Camorra genannt wird.

"Nicht nur die Männer der Polizei und der Justiz sind wichtig im Kampf gegen die organisierte Kriminalität, sondern wir alle müssen dafür kämpfen, dass dieser Krebs, der sich im Gewebe unserer Region immer weiter ausbreitet, besiegt wird."

Immer wieder, wie Ende Oktober, lädt Don Merola, Pfarrer der Kirche Santa Chiara, seine Gemeindemitglieder und Repräsentanten der Anti-Mafia-Polizei zum, wie er es nennt, "Fest der Legalität" ein. Ein Gemeindefest gegen die Camorra, zu dem es Wein und Käse, Kuchen und Spiele für Kinder gibt. Ein Fest, das jene verärgert, die nicht wollen, dass man über sie spricht: die Bosse und ihre Helfershelfer.

Frauen, Männer und Kinder, Geistliche und Vertreter der Justiz demonstrieren immer wieder in den Großstädten Süditaliens gegen die Mafia, die Politik und Wirtschaft beherrscht. Wie hier in Palermo. Die meisten dieser Veranstaltungen werden von Repräsentanten der Kirche organisiert.

Sie sind seit einigen Jahren zu Anti-Mafia-Kämpfern an vorderster Front geworden und wehren sich dagegen, dass die Bosse Politik, Wirtschaft und öffentliches Leben durch Korruption und Gewalt fest im Griff haben. Wie zum Beispiel Don Luigi Ciotti, einer der mutigsten Anti-Mafia-Priester Italiens:

"Immer mehr Menschen unterstützen uns und kommen aus ganz Italien angereist, wenn wir auf die Straße gehen. Jeder bringt ein kleines Opfer, denn viel können wir nicht bieten. Wir haben keine Möglichkeit, die Menschen zu verpflegen. Wichtig ist, dass wir der Polizei und der Justiz zeigen, dass wir ihre Arbeit unterstützen, dass wir jenen Teil der Institutionen nicht allein lassen, die gezielt die Mafia bekämpfen."

Dass katholische Geistliche so offen Position beziehen, auf die Straße gehen, Sozialprojekte entwickeln, um Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, einen Ausweg aus der Sozialisation in Mafiakreisen zu finden, ist ein relativ neues Phänomen. Sicherlich: Es gab immer mal wieder Geistliche, die sich mutig gegen lokale Bosse auflehnten – und dafür mit dem Leben bezahlen mussten - doch sie waren eine seltene Ausnahme. Wie Don Pino Puglisi, der 1993 in Palermo von Killern der Cosa Nostra, der sizilianischen Mafia, erschossen wurde. Für seinen Anti-Mafia-Einsatz soll er bald selig gesprochen werden.

Im gleichen Jahr 1993 äußerte sich Johannes Paul II. im sizilianischen Agrigent zur Mafia. Nie zuvor bezog ein Papst so deutlich Stellung gegen die organisierte Kriminalität. Der polnische Papst leitete eine entschiedene Wende der Amtskirche im Umgang mit der Mafia ein.

Lange, viel zu lange hatte die Kirche die weltliche Macht der Bosse akzeptiert. Kritik an ihrer Macht war selten. Seit Jahrhunderten geben sich die Mafiosi fromm, gehen in die Kirche und lassen ihre neuen Mitglieder auf die Madonna schwören.

Die Mafia Süditaliens hat eine eigene Vorstellung von Gott. Eine Vorstellung, die heute von der Kirche nicht mehr akzeptiert wird. Die Mafiasoziologin Alessandra Dini erforscht das Phänomen Bosse und Kirche:

"Der Gott der Mafia ist ein omnipotenter und nicht verständnisvoller Gott, transzendent und doch wie ein zu fürchtender Herrscher hoch über den Menschen stehend, unerreichbar. Eher ein Padrino als ein Padre, also ein Boss und kein Vater."

Das Gottesbild der Mafiosi wird von Experten wie Alessandra Dini als "patriarchalisch-anachronistisch" bezeichnet. Die theologischen Veränderungen des zweiten vatikanischen Konzils sind hier nicht angekommen. Noch heute dient das religiöse Universum Süditaliens der herrschaftlichen Legitimation der Mafia. Es garantiert ihre kulturelle Identität und schafft öffentliches Ansehen.

In den kleinen Ortschaften Siziliens marschieren lokale Bosse immer noch bei Heiligenprozessionen durch die Straßen und in Großstädten wie Catania werden solche Prozessionen sogar von Clans finanziert.

Mafiasoziologin Dini widerspricht dennoch der von Kollegenimmer wieder vorgetragenen Behauptung, wonach die organisierte Kriminalität den christlichen Glauben instrumentalisiere:

"Wenn sie das tun würden, fände sie nur wenig Anhaltspunkte für ihre Existenz in den Evangelien. Dafür aber findet die Mafia in der patriarchalen, streng hierarchisch organisierten Form des typisch südeuropäischen Katholizismus, wie er als starres Herrschaftsgebilde jahrhundertelang existierte, ihr Vorbild und eine konformistische und chauvinistische Vision der Welt."

Alessandra Dini spricht in diesem Zusammenhang von einer mafiösen Theologie, von einer "Perversion des christlichen Glaubens". Als Beweis für diese These verweist sie auf die lange Zeit enge Verbindung zwischen Bossen und der sizilianischen Geistlichkeit, die sich der organisierten Kriminalität und ihren religiösen Vorstellungen gegenüber fast ausschließlich konformistisch verhielten. Heute sei das der Soziologin zufolge größtenteils anders, aber auf Sizilien finden sich immer noch katholische Geistliche, die Mafiahochzeiten und andere religiöse Zeremonien zelebrieren.

Bei den Clans der neuen Mafia, die sich ganz bewusst außerhalb mafiöser Traditionen stellen und eher x-beliebigen Kriminellensyndikaten ohne territoriale und kulturelle Verwurzung vergleichbar sind, finden sich Alessandra Dini zufolge keine religiösen Bezüge mehr. Im Gegenteil:

"Es gibt immer mehr Fälle von Bossen, wie Sandro Lo Piccolo oder Matteo Messina Denaro, die sich in ihren Briefen als entschieden laizistisch bezeichnen und mit den alten religiösen Riten der Mafia nichts zu schaffen haben wollen. Man kann hier, wie ja auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen, von einer Säkularisierung mafiöser Mentalitäten sprechen."

Der Kampf gegen die Mafia dagegen hat sich nicht säkularisiert, im Gegenteil - das Engagement der Priester gegen die Bosse nimmt zu. An der Kirchenspitze allerdings sieht es anders aus. Bei seinem jüngsten Besuch auf Sizilien streifte Papst Benedikt XVI. das Thema Mafia nur und knüpfte nicht an die wütenden Worte und die geballte Faust seines Vorgängers an. Mafiajäger, die Bevölkerung und jene katholischen Geistlichen, die an vorderster Front erleben, was Mafia bedeutet, hatten sich mehr von dem Papst erwartet.