Die Fleischesser

Von Holger Siemann · 18.09.2013
Seit Holger Siemann aufs Land gezogen ist, tötet er seine Beute selber. Das verändert die Perspektive - und spiegelt die Verlogenheit einer Fleischkultur aus sauberen Plastikschalen. Man muss schon "Ja" zum Schlachten sagen, wenn man das Schnitzel schätzt, meint der Schriftsteller.
Vor einiger Zeit zog eine Freundin und ehemalige Mitarbeiterin meines Münchner Verlags in unsere Nähe nach Brandenburg und lud zur Einweihungsparty. Ein Haus am See, herrliches Wetter und guter Wein. Am Lagerfeuer aßen kultivierte Köpfe der Buchbranche Gulaschsuppe und frisch geräucherten Fisch. "Stimmt es, was man so hört", fragte mich ein Buchhändler, ihr schlachtet selbst?" In der Runde drehten sich die Köpfe und betrachteten mich. Ich wurde rot.

In der Tat hatten wir gerade erst Peter, eins unserer Wollschweine, geschlachtet. Ich versuchte, mich zu rechtfertigen und erzählte, wie ich in den Wochen vor dem Schlachttermin Peter beim Füttern mit dem Bolzenschussgerät die Stirn gestreichelt hatte, weil ich auf keinen Fall wollte, was ich in der Nachbarschaft gesehen hatte: Quiekende, in Stricken zappelnde Schweine, schreiend fluchende Männer, Hammerschläge, Stress und jede Menge Adrenalin. Nach einer Weile hatte Peter vor Freude gesabbert, wenn er das Bolzenschussgerät nur sah. An seinem letzten Tag fiel er tonlos um, vielleicht nicht glücklich, aber ruhig.

Fleisch nur am Wochenende
Als ich solchermaßen die Frage beantwortet hatte, herrschte betretene Stille. Beim Knistern des Lagerfeuers löffelten die Literaten ihre Gulaschsuppe. Endlich bemerkte eine Dame: "Ich finde, wir haben nicht das Recht, über Tiere zu herrschen." Oh. Ich versuchte, meine Betroffenheit zu überspielen und bekannte meine Hochachtung für Vegetarier. Auch bei uns gab es, seit wir selbst schlachteten, Fleisch nur noch am Wochenende oder für Gäste.

Nein, nein, sie sei keineswegs Vegetarierin, widersprach die Dame, im Gegenteil! Sie könne nur solche Geschichten nicht ertragen. Sei es nicht makaber, dem armen Schwein einen Namen zu geben? Andere Partygäste nickten: Man könne kein Tier essen, dass man gekannt habe.

Ich trank einen tiefen Schluck und gestand, dass bei uns alle Tiere Namen hatten. Der Hammel mit dem existenzialistischen Blick hieß Kierkegaard, das Lamm ohne Hörner Giovanni, die Chefin der Herde war Shee und der schon etwas angejahrte Bock hieß Grass. Auch auf den Tüten in der Tiefkühltruhe stand der Einfachheit halber "Hack von Merlin" oder "Kotelett von Peter".

Ich war ein bisschen wütend. In der Nähe unseres Dorfes war, nach Jahren des Widerstands, gerade die Wiedereröffnung einer Mastanlage für 35.000 Schweine genehmigt worden. Schon zu DDR-Zeiten hatte infernalischer Gestank über dem Land gelegen, und der nahe See war eine Kloake gewesen.

Ställe mit Strom und Stacheldraht gesichert
Heute waren die Ställe gegen ungebetene Besucher mit Strom und Stacheldraht gesichert. Der Gestank der Massentierhaltung wurde aus der Luft gefiltert und die Gülle in Gärtanks zu sauberem Biogas verarbeitet. Zum Schlachthof fuhren geschlossene Container, und wenn das Fleisch eingeschweißt in der Kühltheke lag, sah es nicht mehr nach dem gewesenen Geschöpf aus. Alles wurde getan, dem Verbraucher die Verdrängung zu erleichtern. Die Partygäste nickten nachdenklich. Schlimm sei das, ja!

Ich trank mein Glas aus und schlug ich vor, Fleisch überhaupt nur noch von Tieren zu essen, die man persönlich gekannt hat. Natürlich brauchte es dann Rituale, um die Geister der toten Tiere zu bannen. Indigene Völker kannten Brandopfer und Gebete, und auch wir ließen ja keinen "Guten Appetit" verhallen, ohne uns zu erinnern, wer da auf dem Teller lag und ihm zu danken. Anfangs hatten unsere Freunde verlegen auf die plötzlich so persönliche Bekanntschaft mit dem Essen reagiert. Heute sagt selbst unser zwölfjähriges Patenkind, seit mehr als zwei Jahren Vegetarierin, nicht mehr "Iieh!" zum Fleisch, sondern fragt: "Wen esst Ihr da?".

Beflügelt vom guten Wein setzte ich noch eins drauf: Wer von den Partygästen wolle, könne ja beim nächsten Schlachttermin dabei sein und helfen. Bisher hat sich aber niemand gemeldet.

Holger Siemann, 1962 in Leipzig geboren, studierte Philosophie in Berlin. Er arbeitete als Offizier, Schauspieler, Sozialwissenschaftler und Familienhelfer, seit 2001 als freier Autor zahlreicher Hörspiele, Feature und Libretti. 2006 und 2008 erschienen die ersten beiden Romane bei C. Bertelsmann. Seit 2010 lebt und arbeitet Holger Siemann als schreibender Bauer auf einem Hof in der Uckermark.
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