DGB ruft zum Kampf gegen Altersarmut auf

Moderation: Matthias Thiel und Ulrich Ziegler · 26.01.2008
Der Deutsche Gewerkschaftsbund will in den kommenden Wahlauseinandersetzungen Stellung gegen Altersarmut beziehen. In der Lebenswirklichkeit der Menschen spiele das Thema eine große Rolle, sagte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach.
Deutschlandradio Kultur: Frau Buntenbach, gleich zu Beginn mal die Frage auf Ehre und Gewissen: Mit welchem Handy telefonieren Sie?

Annelie Buntenbach: Kein Nokia-Handy, wenn Sie das wissen wollten.

Deutschlandradio Kultur: Andere haben Nokia-Handys, beispielsweise SPD-Fraktionschef Peter Struck, der will aber damit nicht mehr telefonieren. Horst Seehofer will sogar prüfen lassen, ob man im ganzen Ministerium auf Nokia-Handys verzichten kann. Ist das die richtige Politik, die richtige Reaktion auf die Werkschließung in Bochum?

Annelie Buntenbach: Ich glaube, dass man in der Tat über diese Boykottmaßnahmen nachdenken muss, wenn es zu der Werkschließung kommt. Im Moment kämpfen die Kolleginnen und Kollegen ja noch darum, dass das Werk nicht geschlossen wird. Ich hoffe, dass sie damit Erfolg haben, auch wenn es wirklich nicht gut aussieht. Wenn Nokia wirklich diese Sauerei macht und das Werk in Bochum schließen sollte, trotz der Subventionen, die geflossen sind, trotz der Gewinne, die da gemacht werden, die Kolleginnen und Kollegen auf die Straße setzt, dann – finde ich – sind solche Boykottmaßnahmen auch wirklich angesagt.

Deutschlandradio Kultur: Vom "Karawanen-Kapitalismus" ist inzwischen die Rede und auch vom "Subventionstourismus" internationaler Firmen. Kritiker sagen, wir sollten am besten gleich mal die Subventionen alle streichen. Damit würden wir dann doch auch was erreichen können. Können wir so die Investoren ins Land holen, aber vor allen Dingen auch im Land halten?

Annelie Buntenbach: Ich glaube, wir müssen mehrere Konsequenzen ziehen aus dem, was bei Nokia jetzt passiert ist. Die Bindungsfrist von Subventionen muss verlängert werden. Es muss auch klar sein, dass nicht zusätzlich noch Verlagerungen von Standorten durch europäische Mittel subventioniert werden, was ja oft genug der Fall ist. Es kann auch nicht sein, dass man eine Standortschließung noch von der Steuer absetzen kann, damit man dann an einer anderen Stelle, wo die Kursgewinne etwas höher zu sein scheinen, wieder aufmachen kann.
Es kann auch nicht sein, dass man an so einer Stelle von so genannten betriebsbedingten Kündigungen redet. Das müsste etwas sein, was der Kündigungsschutz für wirtschaftliche Notlagen reserviert, das heißt, für Firmen, die wirklich in den roten Zahlen sind und nicht so hoch Gewinne machen, wie Nokia das macht. Ich finde, dass betriebsbedingte Kündigungen hier der völlig falsche Begriff ist und dass hier der Kündigungsschutz auch noch mal verbessert werden muss.

Deutschlandradio Kultur: In dem Zusammenhang fordert der DGB diese Woche auch eine Zunahme der Unternehmensmitbestimmung. Wenn mehr Mitbestimmung, dann Sicherung der Arbeitsplätze. Heißt so die Parole?

Annelie Buntenbach: Das ist eines der Mittel, die wir haben, in den Aufsichtsräten mit dazu beizutragen in der Unternehmensmitbestimmung, dass die Betriebskonzepte, die Investitionen nicht völlig an den Interessen der Kolleginnen und Kollegen vorbeigehen. Wenn wir uns hier wenigstens mit den Konzepten, den Vorschlägen im Aufsichtsrat mit einmischen können, dann sind die Chancen erheblich besser, hier auch Entscheidungen im Interesse der Kolleginnen und Kollegen zu treffen zum einen. Zum anderen läuft dann wenigstens die Information und die Transparenz früher. Ich meine, die Kollegen sind ja völlig überrascht worden von dieser Entscheidung.

Deutschlandradio Kultur: Das ist ein Kommunikationsproblem, aber diese Vorstellung, dass man über mehr Mitbestimmung den Standort Deutschland für internationale Investoren attraktiver macht, glauben Sie das wirklich?

Annelie Buntenbach: Ich glaube, dass die Mitbestimmung ein Plus ist für Unternehmen, die mit dieser Mitbestimmung arbeiten, weil die eben die Konzepte für die Investitionen, für den Betrieb mit den Beteiligten zusammen entwickeln, das heißt, mit den Belegschaften, mit Gewerkschaften zusammen entwickeln. Ich glaube, dass daraus auch längerfristige Konzepte entstehen, die mehr z.B. auf Qualifizierung, auf Standortsicherung setzen, und dass die Mitbestimmung eine Chance ist für Unternehmen auch hier in Deutschland. Ob das von allen Investoren dann auch so gewertet wird, steht dann auf einem anderen Blatt.

Deutschlandradio Kultur: Nicht nur die betroffenen Arbeitnehmer, auch die Politiker, auch die Gewerkschaften sind aufgeschreckt und andere. Der Mainzer Kardinal spricht wörtlich inzwischen von einer "unbewältigten Globalisierung". Ist das das Ende der sozialen Marktwirtschaft? Haben wir hier eine neue gesellschaftspolitische Debatte?

Annelie Buntenbach: Wir brauchen eine neue gesellschaftspolitische Debatte, weil es nicht sein kann, dass Unternehmen wegen der Möglichkeiten minimaler zusätzlicher Aktiengewinne, dann, wenn sie wirklich hohe Gewinne sowieso schon einstreichen, Investitionsruinen hinter sich lassen und sich über die Interessen der Beschäftigten hinwegsetzen und lediglich kurzfristig auf die Aktienkursschwankungen reagieren. Dann ist noch das Dilemma, dass die Aktienkurse nach oben gehen, wenn Massenentlassungen stattfinden. Das ist ein Mechanismus, den kann man nicht zulassen. Den kann sich eine Gesellschaft schlicht nicht leisten. Wir müssen den Menschen auch die Möglichkeit geben, ihr Leben zu planen und können uns nicht allein nach Aktienkursschwankungen richten.

Deutschlandradio Kultur: Entschuldigen Sie, dass ich Sie an der Stelle unterbreche. Wie wollen Sie dieses Gerechtigkeitsmerkmal bei einer solchen internationalen Firma durchsetzen?

Annelie Buntenbach: Die Druckmittel, die wir haben, sind Veränderungen z.B. im Kündigungsschutz. Es sind die Bindungsfristen von Investitionen, damit die Karawane nicht einfach zügig weiterzieht.

Deutschlandradio Kultur: Macht dann die Karawane nicht vielleicht einen Umweg um Deutschland?

Annelie Buntenbach: Das glaube ich nicht. Es liegt ja nicht daran, dass die Kolleginnen und Kollegen hier nicht ein Produktionsergebnis geliefert hätten, von dem sie aber eben auch die Firma erheblich profitiert hat. Das macht ja das Ganze noch viel ungerechter. Deswegen glaube ich nicht, dass – wenn wir hier gesetzlich die Rahmenbedingungen verändern, um solche Subventionskarawanen in Zukunft zu verhindern – wir damit dann den Standort Deutschland so verschlechtern, dass hier keiner mehr hinkommt. Das halte ich für ein Gerücht.

Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie sagen, dass man die gesetzlichen Rahmenbedingungen verändern muss: Interessanterweise ist ja diese Gerechtigkeitsdebatte im Moment in der Gesellschaft angekommen. Auch die Sozialdemokratie diskutiert anders als möglicherweise vor zwei Jahren. Haben Sie den Eindruck und das Gefühl, dass die Kommunikation zwischen Gewerkschaften und vor allen Dingen der SPD jetzt deutlich besser geworden ist nach dem Parteitag der SPD, nach den Änderungen in Sachen Agenda 2010?

Annelie Buntenbach: Ich bin froh, dass wir inzwischen eine gesellschaftliche Diskussion wieder führen, die sich nicht nur an der Standortfrage ausrichtet, so dass man eben darüber redet, welche optimalen Bedingungen man den Unternehmen gibt, sondern auch darüber redet, wenn Unternehmen hier produzieren, wie das dann eben auch den Beschäftigten und der Gesamtwirtschaft zugute kommen kann, weil man sieht, dass es so, wie es jetzt im Moment läuft, nicht funktioniert.
Ich glaube, dass wir mit dieser Veränderung der politischen Diskussion auch wieder bessere Möglichkeiten haben mit gewerkschaftlichen Forderungen, mit der Frage von Lohnerhöhung, Mindestlöhnen auch auf die Politik zuzugehen. Da hat sich im Verhältnis zur SPD deutlich was nach der Agenda-2010-Diskussion verändert, weil hier auch wieder hingehört wird, wie denn die Lebenswirklichkeit der Menschen aussieht. Wir werden darauf drängen, dass das aber nicht nur ein Hinhören ist und schöne Überschriften wie "Gute Arbeit" oder eben "Mindestlohn", sondern dass das eben auch praktische Konsequenzen hat. Es geht nicht nur um Wahlkampfüberschriften.

Deutschlandradio Kultur: Hört Ihnen, hört den Gewerkschaften der neue Arbeitsminister Scholz besser zu als der alte, Müntefering?

Annelie Buntenbach: Es haben schon verschiedene Gespräche mit Scholz stattgefunden, auch sehr konkrete Gespräche über die Frage "Aufnahme von Branchen ins Entsendegesetz", damit hier Mindestlöhne eingeführt werden können, auch über die Frage gesetzlicher Mindestlohn. Ich gehe davon aus, dass wir in diesen Gesprächen hier auch konkret den Minister von einigen unserer Forderungen überzeugen können und dass wir hier auch im Parlament entsprechende Unterstützung finden. Branchenmindestlöhne, z.B. bei der Leiharbeit, im Entsendegesetz zu haben, dass die allgemeinverbindlich sind und wenigstens als unterste Linie für alle gelten, das ist lange überfällig, gesetzliche Mindestlöhne ebenfalls. Da hoffe ich schon darauf, dass hier die Politik auch wirklich praktisch was bewegt.

Deutschlandradio Kultur: An der Stelle muss die Politik handeln. Konkret sind wir in tarifpolitischen Auseinandersetzungen. Es geht um höhere Löhne. Im öffentlichen Dienst sagt beispielsweise der Arbeitsminister, da könne man schon ein bisschen mehr bekommen. Beck hingegen sagt, na ja, so viel wie möglicherweise in der Stahlbranche kann es nicht sein. Mit welchen realistischen Vorstellungen können wir denn eigentlich bei den Forderungen im öffentlichen Dienst reingehen, was die Lohnerhöhung angeht?

Annelie Buntenbach: Ver.di hat 8 Prozent gefordert. Auch die anderen Forderungen, die sich jetzt abzeichnen, liegen in einem solchen Bereich. Ich glaube, dass hier auch wirklich dringend eine kräftige Tariferhöhung nötig ist. Wenn wir darüber reden: Eine Kindergärtnerin, relativ gut bezahlt - meine ich – im Bereich ihrer Berufsgruppe, bringt 1.500 Euro netto nach Hause. Das ist, wenn man weiß, wie hoch die Miete ist, wie hoch die Lebenshaltungskosten sind, nun wirklich nicht viel. Krankenpfleger: 1.700 Euro netto. Bei all dem muss man ja auch immer noch bedenken, dass die Menschen eigentlich fürs Alter, für die Rente auch entsprechend was zurücklegen sollen. Das sind Lohnbereiche, wo ich sagen muss, in diesen unteren Lohngruppen muss tariflich was passieren. Da brauchen die Menschen einfach eine Erhöhung. Wir hatten Reallohnverluste jetzt schon seit vier Jahren. Das kann so nicht weitergehen.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt in der Konsequenz auch Neuverschuldung?

Annelie Buntenbach: Das heißt in der Konsequenz, dass hier der Aufschwung bei allen auch ankommen muss, damit eben gerade die, die in den unteren Lohngruppen sind, auch entsprechend mehr Geld in der Tasche haben.

Deutschlandradio Kultur: Aber auch Neuverschuldung?

Annelie Buntenbach: Die Frage ist ja: Wie wird verteilt? Wie werden die öffentlichen Kassen gefüllt? Woher kommen die Einnahmen? Wer zahlt die Steuern? Das ist die eine Frage. Die zweite Frage ist: Wofür werden sie ausgegeben? Ich glaube, klar ist auch, dass wir nicht eine gute Qualität der Leistungen von den Kolleginnen und Kollegen erwarten können, wenn sie schlecht bezahlt werden, sondern da muss man dran. Wenn das dann heißen würde Neuverschuldung, dann heißt es Neuverschuldung. Aber für mich ist entscheidend, dass hier die öffentliche Hand eben auch entsprechend handlungsfähig ist und gute Qualität liefert.

Deutschlandradio Kultur: Und wie sieht es im industriellen Bereich aus? Da auch der große Schluck aus der Pulle, nicht nur Inflationsausgleich, sondern auch Teilhabe an der Produktivitätssteigerung, also bis zu 12 Prozent?

Annelie Buntenbach: Ja, das muss heißen, Teilhabe an der Produktivitätssteigerung. Es gibt ja keinen Grund, warum die Produktivitätssteigerung immer ausschließlich bei den Unternehmen oder auf den Konten der Aktionäre landen sollte. Ich meine, es kann ja nicht sein, dass Glos auf der einen Seite sagt, die Binnenkonjunktur muss unbedingt anspringen, damit der Aufschwung hält, und auf der anderen Seite sagt, jetzt aber Lohnzurückhaltung. Also, entweder oder.

Deutschlandradio Kultur: Aber stellen Sie sich mal vor, es passiert dieser von niemand gewünschte Fall, dass wir tatsächlich in eine kleine Rezession rein rauschen. Die Zeichen sehen an der Börse nicht besonders gut aus. Viele Leute gibt es, die sagen, die Konjunkturaussichten sind zumindest in manchen Bereichen eingetrübt. Trotzdem diese hohe Lohnforderung?

Annelie Buntenbach: Ja. Alle Experten sagen, dass die Frage, ob die Konjunktur in Gang bleibt oder nicht, eben auch bei der Binnenkonjunktur liegt. Das heißt, haben die Leute überhaupt die Mittel und Möglichkeiten, um Geld auszugeben oder den Konsum nachzuholen, den sie die ganzen letzten Jahre aufgeschoben haben? Da geht es doch darum, dass gerade die unteren Einkommen, aber insgesamt die Kollegen überhaupt Geld in der Tasche haben, damit sie hier diese Binnenkonjunktur auch anwerfen können. Es kann doch nicht sein, dass die Kolleginnen und Kollegen die Spekulationsverluste der Aktienanleger auffangen sollen.

Deutschlandradio Kultur: Die Wirtschaft ist gewachsen, die Arbeitslosenzahlen haben abgenommen. Immer mehr sozialversicherungspflichtige Stellen wurden eingerichtet. So lobt sich die Bundesregierung. Sehen Sie das auch so oder haben Sie da andere Erkenntnisse im DGB, Frau Buntenbach?

Annelie Buntenbach: Es ist richtig, dass inzwischen der Arbeitsmarkt in Bewegung gekommen ist. Das ist auch gut so. Aber es ist ein gespaltener Arbeitsmarkt. Wir haben die einen, die noch nahe am Arbeitsmarkt waren, die arbeitslos geworden sind, die wieder in Beschäftigung gefunden haben. Aber viele stehen nach wie vor draußen, besonders, die, die schon weiter vom Arbeitsmarkt weg waren, also Langzeitarbeitslose, Unqualifizierte oder nicht so gut Qualifizierte. Hier muss die Politik dringend was unternehmen. Und zwar müssen sowohl die Arbeitsagenturen als auch die Politik selbst hier in eine bessere Qualifizierung investieren im Betrieb, aber eben auch über die Agenturen, damit hier die Unterstützung für die un- und angelernten Arbeitslosen so ausfällt, dass sie auch eine Chance haben, am Arbeitsmarkt ihren Platz zu finden.
Man muss auch sagen, gerade bei der Jugend ist es so, dass die Ausbildungsplatzmisere der letzten Jahre sehr viele un- und angelernte jüngere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen mit sich gebracht hat. Auch hier brauchen die Jugendlichen dringend eine zweite Chance, damit sie mit einer vernünftigen Qualifizierung ins Erwerbsleben einsteigen.
Vielleicht ein Punkt noch: Mit der neu entstandenen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung sieht es bei Weitem nicht so gut aus, wie die Bundesregierung oder wie die Statistiken einen das manchmal glauben machen wollen. Zum einen haben wir einen Boom von prekärer Beschäftigung, also von unsicherer Beschäftigung, die auch nicht unbedingt lange hält, und wir haben eine große Zunahme von Leiharbeit. Das ist ein ganz dickes Problem, weil hier die Kollegen die Erfahrung machen, dass sie nach ihrer Entlassung dann irgendwann über die Verleihagentur vielleicht auch wieder in denselben Betrieb, an dieselbe Stelle kommen, nur zur Hälfte des Lohns und zu schlechteren Bedingungen. Es kann ja nicht sein, dass die Menschen dann dieselbe Arbeit tun sollen, aber eben erheblich schlechter bezahlt mit schlechteren Bedingungen. Da muss für die gleiche Arbeit das gleiche Geld gezahlt und die Leiharbeit erheblich eingedämmt werden.

Deutschlandradio Kultur: Wo waren denn die Gewerkschaften in den letzten zwei, drei, vier Jahren, als dieser Leiharbeitsbereich größer wurde, als diese prekären Verhältnisse ausgebaut wurden? Die Stimme Ihrer Gewerkschaft oder der Einzelgewerkschaften war so stark nicht. Zumindest konnten sie diese Entwicklung nicht verhindern.

Annelie Buntenbach: Wir haben diese Entwicklung in der Tat nicht verhindern können. Hier sind die Weichen von der Politik falsch gestellt worden. Hier ist sozusagen eine Schleuse aufgemacht worden, gerade bei der Ausweitung von Leiharbeit, durch die Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes.

Deutschlandradio Kultur: Aber es gab keinen massiven Widerstand von Ihnen.

Annelie Buntenbach: Wir haben in den letzten Jahren immer wieder dieses Wuchern der Leiharbeit auch kritisiert, weil das nicht mehr eine Form von Beschäftigung ist, wo man sagen kann, da werden Spitzen abgefangen und das ist ein flexibles Mittel der Unternehmen, sondern da wird ganz eindeutig reguläre Beschäftigung durch Beschäftigung zu schlechteren Konditionen ersetzt. Das können wir nicht zulassen. Da gibt es inzwischen bei der IG Metall nicht nur bei BMW neue Vereinbarungen, sondern auch in Nordrhein-Westfalen eine Kampagne mit dem Titel "Gleiches Geld für gleiche Arbeit", wo eben mit Betriebsvereinbarungen versucht wird, hier gegenzuhalten und eben die Kolleginnen und Kollegen, die als Leiharbeiter in die Entleihbetriebe wieder reinkommen, eben auch zu organisieren und mit ihnen gemeinsam die Interessen auch durchzusetzen. Das ist eine betriebliche, das ist eine tarifpolitische Aufgabe, ist aber auch eine Forderung an den Gesetzgeber, hier beim Arbeitnehmerüberlassungsgesetz dafür zu sorgen, dass eben gleicher Lohn für gleiche Arbeit, also equal pay, gezahlt wird. Dafür werden wir uns in den nächsten Monaten mit Nachdruck auch einsetzen.

Deutschlandradio Kultur: Man hätte sich ja vielleicht früher einsetzen können, beispielsweise wie die Lokführer, dass man einfach sagt: Wir stellen uns so lange auf die Hinterbeine, solange bis dieses Problem Leiharbeiter vom Tisch ist. Der Druck ist aber nicht gekommen.

Annelie Buntenbach: Der Druck baut sich auf. Ich bin sicher, dass der Druck in den nächsten Monaten hier erheblich stärker wird und wir da mit Nachdruck auch auf eine politische Antwort drängen werden.

Deutschlandradio Kultur: In vielen Bereichen zahlt die Wirtschaft inzwischen Dumpinglöhne und der Steuerzahler stockt mit Hartz-IV-Mitteln im Grunde genommen bis zu einem Grundeinkommen auf. Ist das nicht sehr viel sinnvoller, als die Arbeitslosen gleich ganz auf der Straße sitzenzulassen? Ich glaube, Sie haben mal ermittelt, dass es 1,2 Millionen Menschen in diesem Lande betrifft. Ist das nicht besser, als wenn sie ganz auf der Straße sitzen würden?

Annelie Buntenbach: Am besten wäre es, wenn sie eine Arbeit hätten, von der sie auch leben können. Natürlich ist es nicht die Alternative, dass sie ganz auf der Straße sitzen. Aber ich finde, diesem massenhaften Missbrauch, den Arbeitgeber hier mit Steuermitteln begehen, nämlich Hungerlöhne aus der Hartz-IV-Kasse subventionieren zu lassen, müssen wir ganz dringend einen Riegel vorschieben.
Ein ganz zentraler Punkt sind dabei Mindestlöhne. Wir brauchen ein Lohnniveau, was auch in dem unteren Lohnbereich nicht mehr mit 3,00 Euro, 4,50 Euro in den Hungerlohnbereich abgedrängt werden kann. Da brauchen wir tarifliche Mindestlöhne in den Branchen, wo wir das durchsetzen können, aber es darf auch keine weißen Flecken geben, sondern wir brauchen eine flächendeckende untere Auffanglinie, weil sonst der Steuerzahler in der Tat die Hungerlöhne, die Arbeitgeber zahlen, subventionieren wird. Das ist ein ganz entscheidender Punkt.
Zwei Millionen Menschen haben inzwischen zwei Jobs, nicht mehr nur einen. Das ist neben den 1,3 Millionen, die Hartz IV aufstockend beziehen, ein ganz klares Alarmsignal dafür, dass die Löhne hier in Deutschland schlicht zu niedrig sind, der Arbeitsmarkt gespalten ist.

Deutschlandradio Kultur: Sehen Sie nicht die Gefahr, dass möglicherweise mit Mindestlöhnen von 7,50 Euro am Schluss für den Arbeitnehmer wiederum viel zu wenig übrig bleibt, um überhaupt seine Familie ernähren zu können?

Annelie Buntenbach: 7,50 Euro ist für uns ein Einstieg. Wir wollen den gesetzlichen Mindestlohn auf der Höhe jetzt durchsetzen. Aber es ist auch klar, dass wir danach – so ähnlich, wie das in Großbritannien oder auch Frankreich läuft – überprüfen müssen, wie hoch der Mindestlohn denn wirklich sein muss, um vor Armut entsprechend zu schützen. Da gibt es ja eine "Low Pay Commission" z.B. in Großbritannien. An dem Vorbild orientiert, werden wir dann auch diese 7,50 Euro uns sicherlich noch mal genauer angucken müssen. Ich gehe von aus, dass wir natürlich da auch perspektivisch Erhöhungen brauchen. Aber wenn wir erst mal die 7,50 Euro durchgesetzt hätten, dann wären wir schon einen großen Schritt weiter, was die untere Auffanglinie im Lohnniveau angeht.

Deutschlandradio Kultur: Kündigen die Gewerkschaften aber damit nicht die Solidarität mit den Arbeitslosen auf, die vielleicht Hoffnung auf eine kleine Beschäftigung haben, vielleicht beim Friseur nur 5,00 oder 4,00 Euro zu verdienen?

Annelie Buntenbach: Nein, wir kündigen nicht die Solidarität mit den Arbeitslosen auf, im Gegenteil. Wir wollen, dass die Arbeitslosen zu vernünftigen Bedingungen einen neuen Job finden können. Das heißt für mich z.B., dass die Zumutbarkeitsregeln, die wir jetzt bei Hartz-IV-Bezug haben, auch dringend überprüft werden müssen.
Im Moment ist es so, dass Arbeitslose eigentlich an jede Arbeit gezwungen werden können, auch weit unterhalb von Tarif und außerhalb der Sozialversicherung. Daraus entstehen dann oft auch eben diese nicht existenzsichernden Beschäftigungen, gegen die sich Arbeitslose gar nicht wehren können, die entsprechend aufgestockt werden müssen. Hier hat der Staat nicht das Recht, Menschen zu solchen Konditionen an die Arbeit zu zwingen, sondern wir müssen dafür sorgen, dass die Beschäftigung zu vernünftigen Bedingungen stattfindet.

Deutschlandradio Kultur: Da haben wir ja auch eine tickende Zeitbombe. Wir wissen heute schon, dass wir in 10, 15 Jahren eine große Masse an Altersarmut haben werden, weil diese prekären Arbeitsverhältnisse, diese niedrigen Einkommen nicht ausreichen, um später ordentlich von der Rente leben zu können. Was schlägt der DGB vor, um dieser massiven Gefahr entgegenzuwirken?

Annelie Buntenbach: Der eine Grund, warum viele drohen, in Altersarmut zu rutschen, liegt ja im Arbeitsmarkt, also bei den so niedrigen Löhnen und bei der Ausweitung von Beschäftigung ohne soziale Absicherung. Das heißt, wir fordern Mindestlöhne. Wir fordern Tariferhöhungen. Wir fordern die Eindämmung prekärer Beschäftigung. Hier muss die Politik die Weichen endlich anders stellen und nicht weiter auf die Ausweitung von Minijobs, von Leiharbeit setzen, sondern eben in vernünftige Beschäftigung investieren.
Zweiter Punkt: Seit Anfang der 90er ist ungefähr ein Drittel aus dem Leistungsumfang der Rente vom Gesetzgeber raus geschnitten worden. Das ist zuviel. Das führt dazu, dass gerade in dem unteren Bereich von Einkommen diejenigen, die lange Phasen von Arbeitslosigkeit hinter sich gebracht haben, dann nachher von ihrer gesetzlichen Rente nicht mehr leben können. Das heißt, wir wollen in dem unteren Bereich aufstocken für Niedrigeinkommen. Das heißt: Rente nach Mindesteinkommen. Das hat es schon mal gegeben. Das wäre gerade für Frauen ein guter Weg, um zu einer entsprechenden gesetzlichen Rente zu kommen. Und wir möchten, dass die Zeiten von Arbeitslosigkeit in der Rentenversicherung besser bewertet werden.
Dazu kommt, wenn man über Altersarmut redet, auch die Frage: Bis wann kann oder bis wann muss man eigentlich arbeiten? Das heißt, die Rente mit 67 wird für uns weiter ein wichtiges Thema sein, weil klar ist, das werden sehr viele Leute überhaupt nicht erreichen können und das wird wirklich eine sozial selektive Wirkung sein, wo die, die körperlich nicht mehr können, drohen auf der Strecke zu bleiben. Also, wer nicht mehr kann, zahlt dann noch drauf. Wir halten die Rente mit 67 für eine absolut falsche Entscheidung. Gleichzeitig brauchen wir gleitende Übergänge, wie z.B. Altersteilzeit, auch mit der entsprechenden Förderung, oder Teilrenten, damit Menschen eben von dem Arbeitsleben auch in die Rente rüberkommen. Und wir brauchen eine Reform der Erwerbsminderungsrente. Wir werden das zu einem zentralen Thema machen. Das spielt eine so große Rolle in der Lebenswirklichkeit der Menschen.

Deutschlandradio Kultur: Wird die Politik da wirklich auf die Gewerkschaften und auch auf die Lebenswirklichkeit der Menschen eingehen? Oder denken die nicht nur in ihren Wahlkampfabschnitten und werden diese Themen ausblenden?

Annelie Buntenbach: Ja dann ist es aber unsere Aufgabe als Gewerkschaften, und die werden wir auch sehr ernst nehmen, diese Themen in den Wahlkämpfen auch ganz obenan zu stellen und unsere Forderungen, was wir gegen Altersarmut tun müssen, was wir gegen Hungerlöhne tun müssen, eben auch obenan zu stellen und dafür zu sorgen, dass die Politik das nicht einfach ignorieren kann. Da sind wir auch fest entschlossen, dass wir das in den kommenden Jahren tun und die Wahlkämpfe für diese Auseinandersetzung nutzen. Nur, das sage ich auch: Es geht uns nicht darum, dass die Parteien dann nachher besonders schöne Überschriften in ihren Wahlprogrammen haben, die so klingen, als würden sie die Forderungen der Kolleginnen und Kollegen da ernst nehmen, sondern es geht uns auch darum, dass das dann wirklich auch praktische Ergebnisse hat für das, was die Politik auch nach dem Wahlkampf, nach der Wahl dann tut.

Deutschlandradio Kultur: Wir haben in den letzten Jahren gelernt, dass wir auch privat vorsorgen müssen, beispielsweise Riester-Rente, damit wir im Alter einigermaßen über die Runden kommen. Würden Sie die Riester-Rente heute noch Leuten mit niedrigem Einkommen empfehlen?

Annelie Buntenbach: Das ist eine schwierige Frage, weil im Moment die Situation so ist: Wenn die gesetzliche Rente nicht über das Grundsicherungsniveau rüber reicht, ist eben auch die private Vorsorge weg. Dass die Leute sich dabei auf den Arm genommen fühlen, ist noch höflich ausgedrückt, weil ihnen ja gesagt worden ist, die Rente wird zwar gekürzt, aber wenn ihr dagegen anspart, dann könnt ihr das alles gut regeln und ihr habt dann eigentlich kein Problem. Das ist stimmt so ganz offensichtlich nicht.
Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass die gesetzliche Rentenversicherung auf eine breitere Basis gestellt und eben entsprechend armutsfest gemacht wird. Das ist die eine Sache. Die zweite Sache: Es kann nicht sein, dass die Leute bei der betrieblichen Altersvorsorge, bei Riester sparen während ihres Arbeitslebens und dann nachher nichts davon haben. Da braucht es angemessene Freibeträge. Die werden wir versuchen, auch in der Politik durchzusetzen, damit das, was für die Altersvorsorge zurückgelegt worden ist, den Leuten im Alter auch wirklich zugute kommt.

Deutschlandradio Kultur: Frau Buntenbach, Sie haben Philosophie studiert. Welcher große Denker hat Sie denn am meisten beeindruckt?

Annelie Buntenbach: Nun, dies ist eine gemeine Frage. Es gibt natürlich viele große Denker, die mich beeinflusst haben, aber ich gebe zu, ich will den Einfluss von Hegel und Marx nicht unter den Scheffel stellen.

Deutschlandradio Kultur: Und das hilft Ihnen auch manchmal, wenn es ganz schräge Situationen gibt bei Verhandlungen oder wie auch immer, wo Sie das Gefühl haben, das zerfleddert völlig, dass Sie sagen: Nein, es gibt ein paar Grundlinien und die müssen wir wieder bündeln und dann wissen wir, wie es weitergeht?

Annelie Buntenbach: Dabei sind die alten Philosophen nur bedingt eine Hilfe. Da hilft es dann eher, mit den Kolleginnen und Kollegen zu reden und im direkten Gespräch immer wieder zu hören, was die Menschen denn eigentlich umtreibt. Ich glaube, das hilft viel mehr, um die Linien im Kopf wieder zu sortieren. Das ist das, was mir da eigentlich immer raus hilft.

Deutschlandradio Kultur: Frau Buntenbach, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.