Deutsche Geschichte

Unsere Identitätskrise ist ein Glück

Zwei ältere Fußballfans feiern am 26.06.2014 beim Fan-Fest in Hamburg kurz vor dem WM-Gruppenspiel Deutschland gegen die USA.
"Schland!" Ob diese deutschen Fußballfans wissen, warum schwarz-rot-gold ihre Farben sind? © dpa/ picture alliance /Daniel Reinhardt
Von Eberhard Straub · 13.03.2015
Der Glaube an eine gemeinsame Identität der Deutschen ist bloße Fiktion, meint der Historiker Eberhard Straub. Er diagnostiziert einen "Identitätswahn", der die Gesellschaft vereinheitlichen wolle und sie dadurch spalte.
"Deutschland, aber wo liegt es?" Das fragten sich 1795 Goethe und Schiller. Sie wussten keine Antwort darauf. Deshalb erübrigte sich für sie jedes unnütze Grübeln über die Identität Deutschlands. Damit beschäftigen sich hingegen heute Orientierungshelfer, unter ihnen auch Bundespräsidenten. Egal ob sie eine deutsche Identität über Kultur oder Nazigrauen definieren: Sie kommen unweigerlich in des Teufels Küche.
Wie sollen so viele Menschen über sich mehr Klarheit haben als jeder Einzelne, der schon genug damit zu tun hat, sein beschränktes Selbst in seinem kleinen Leben halbwegs beisammen zu halten? Denn der Mensch ist ein Vieles, wie Goethe furchtlos anerkannte. Dass Ich ist eine Versammlung vieler selbstständiger Kräfte und Ideen, die gar nicht miteinander zu versöhnen sind. Es ist also nicht leicht, sich selbst zu kennen. Und die Fragen "was ist deutsch?" und "was bedeutet Deutschland?" können sogar davon ablenken, sich selbst zu finden.
Die DDR wurde ausgeklammert
Wo Deutschland liegt, darüber gibt es seit 1949 zumindest juristisch-politische Gewissheit. Die Bundesrepublik ist der erste deutsche Staat, der sich Deutschland nennt. Sie tat das in polemischer Absicht gegen die Deutsche Demokratische Republik. Diese wurde aus dem neuen Deutschland ausgeklammert. Die Bundesrepublik beanspruchte, für Deutschland als Ganzes zu handeln oder zu reden, also für eine Fiktion. Denn Deutschland hat es vorher nie gegeben.
Vielleicht besaßen all die Sachsen, Franken, Schwaben, Bayern, Österreicher oder Preußen eine vage Vorstellung davon, was sie miteinander verband. Irgendwie waren sie alle zusammen Deutsche. Doch jeder hatte sehr eigene Vorstellungen von deutscher Kultur und Geschichte, und jeder Staat pflegte ganz eigene Erinnerungen. Oft in kräftiger Abneigung gegen den unmittelbaren Nachbarn.
Goethe sah in diesem Durcheinander und Gegeneinander sogar einen Vorzug: "Den Deutschen ist nicht daran gelegen, zusammen zu bleiben, aber doch für sich zu bleiben. Jeder, sei er auch, welcher er wolle, hat so sein eigenes Fürsich, das er sich nicht gerne möchte nehmen lassen." – "Deutschland", so viel ist bis heute klar, gibt es nur im Plural.
Was trennt uns? Die gemeinsame Sprache!
In zwei Jahren werden unzählige Luther-Ehrungen allen Einwohnern im Geltungsbereich des Grundgesetzes und sämtlichen Europäern suggerieren, Luther und die Reformation hätten entscheidend zur Identität Deutschlands beigetragen. Ganz im Gegenteil! Luther und die Reformation haben getrennt und gespalten bis tief ins 20. Jahrhundert. Luther mag einer der sprachmächtigsten Deutschen gewesen sein. Aber das Lutherdeutsch wurde nie zu einem verbindlichen Hochdeutsch. Bayern, Österreicher oder Oberschwaben reden und schreiben bis heute anders. Für sie alle gilt das Wiener Bonmot: "Was trennt uns von den Deutschen? Die gemeinsame Sprache!" Nicht einmal die deutsche Sprache schafft also Identität.
Die Deutschen sind nicht mit sich selbst identisch. Was für ein Glück: Der anarchische Wust der deutschen Geschichte erlaubt es jedem, weiterhin an allen möglichen Freiheiten festzuhalten: Bach schrecklich zu finden, Wagner für ein Unglück zu halten oder endlich einen Verein gegen die Überschätzung Hugo von Hofmannsthals zu gründen. Eine deutsche Identität? Was für eine Zwangsvorstellung des Identitätswahns, egal ob im Guten oder Schlechten.
Vereinheitlichung spaltet, Einigkeit in Vielfalt versöhnt.

Eberhard Straub, geboren 1940, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie. Der habilitierte Historiker war bis 1986 Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und bis 1997 Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin. Buchveröffentlichungen u.a.: "Die Wittelsbacher", "Drei letzte Kaiser", "Das zerbrechliche Glück. Liebe und Ehe im Wandel der Zeit" und "Zur Tyrannei der Werte".

Eberhard Straub
© dpa / picture alliance / Uwe Zucchi
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