Der Versöhner

Von Anne Raith · 20.05.2009
"Versöhnen statt spalten." - So lautet das Leitmotiv von Johannes Rau. Von vielen wird er daher als "Bruder Johannes" belächelt. Doch Rau mischt sich während seiner Präsidentschaft in die politischen Debatten ein und bezieht Stellung.
Ernst richtet Bundespräsident Johannes Rau seinen Blick auf das Manuskript. Seine Stimme ist fest, als er im Februar 2000, gut zehn Monate nach Amtsantritt, als erstes deutsches Staatsoberhaupt vor der Knesset, dem israelischen Parlament, spricht.

"Im Angesicht des Volkes Israel verneige ich mich in Demut vor den Ermordeten, die keine Gräber haben, an denen ich sie um Vergebung bitten könnte."

Rau spricht Deutsch, auch das hat es in der Knesset noch nicht gegeben. Ein Drittel der Abgeordneten ist deshalb gar nicht erst erschienen, einige kehren jedoch nach diesen ersten Worten zurück:

"Ich bitte um Vergebung für das, was Deutsche getan haben, für mich und meine Generation, um unserer Kinder und Kindeskinder Willen, deren Zukunft ich an der Seite der Kinder Israels sehen möchte."

Es ist diese Reise nach Israel, eine seiner insgesamt über 75 Auslandsreisen, die Johannes Rau als Bundespräsidenten internationale Anerkennung verschafft. Und die heute, rückblickend, als ein Höhepunkt seiner Amtszeit gilt.

Dabei war seine Wahl im Mai 1999 alles andere als glanzvoll. Dieses Mal hatte es zwar immerhin geklappt - bei seiner ersten Kandidatur fünf Jahren zuvor musste sich der SPD-Politiker gegen Roman Herzog geschlagen geben. Bedenken gab es auch bei diesem zweiten Mal, auch in den eigenen Reihen: Rau sei mit 68 Jahren zu alt, gesundheitlich angeschlagen, außerdem sei es Zeit für eine Frau an der Spitze der Bundesrepublik.

In der öffentlichen Wahrnehmung als Bundespräsident hingegen blieb Johannes Rau unauffällig. Er, der als "Bürgerpräsident" angetreten war:

"Es ist für mich eine persönliche Verpflichtung, über alle Grenzen und über alle Unterschiede hinweg der Bundespräsident aller Deutschen zu sein."

"Versöhnen statt spalten" lautete seit jeher sein politisches Leitmotiv. Und unter das stellt der politische Ziehsohn von Gustav Heinemann auch seine Präsidentschaft.

"Ich will vom Konflikt über den Streit zum Konsens kommen."

Konsens ja – aber nicht um jeden Preis. Genau dadurch gewinnt Johannes Rau schließlich auch in Deutschland an Ansehen. Durch eine klare Meinung, wie in der Gentechnik-Debatte, in der er sich auf die Seite der Gegner und damit auch gegen Bundeskanzler Gerhard Schröder stellt:

"Wo die Menschenwürde berührt ist, zählen keine wirtschaftlichen Argumente. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir unendlich viel Gutes erreichen können, ohne dass Forschung und Wissenschaft sich auf ethisch bedenkliche Felder begeben müssen."

Der "Bedächtige von Bellevue", wie ihn die Zeitung "Die Woche" einmal nannte, gewinnt an Profil, wird ein politischer Präsident, der sich auch innenpolitisch immer wieder einmischt. In die Diskussion um das umstrittene "Zuwanderungsgesetz" zum Beispiel, 2002. Die Abstimmung im Bundesrat war kurz zuvor in einem Eklat geendet: Brandenburg hatte sich nicht auf ein klares Votum einigen können: Ministerpräsident Stolpe, SPD, stimmte dafür, Innenminister Schönbohm, CDU, dagegen. Was der damalige Bundesratspräsident Klaus Wowereit als "Ja" interpretierte und das Gesetz für beschlossen erklärte. Unwürdig sei dieses Gezerre, so der Bundespräsident. Als Auf-den-Tisch-Hauen will das der gebürtige Nordrhein-Westfale aber nicht verstanden wissen:

"Willy Brandt würde sagen, außer dem Tisch wird das niemand beeindrucken. Und ich glaube auch nicht, dass das die Rolle des Bundespräsidenten ist."

82 Prozent der Deutschen wünschen sich am Ende seiner Amtszeit schließlich, dass sich "Bruder Johannes", wie er als gläubiger Christ auch genannt wird, zur Wiederwahl stellt. Doch bereits im September 2004 gibt Rau bekannt, dass er nicht mehr kandidieren wird. Seine letzte "Berliner Rede" hält der inzwischen 73-Jährige am 12. Mai 2004 im Schloss Bellevue. Raus Vermächtnis. Eine Schelte.

"Noch nie hatten so wenig Menschen in Deutschland Vertrauen in die Politik einer Regierung und noch nie haben gleichzeitig so wenige geglaubt, die Opposition könne es besser. Das ist der Ausdruck einer tiefgreifenden Vertrauenskrise."

Was sich in Deutschland ändern muss, das will er nach fast 50 Jahren in der Politik im Ruhestand niederschreiben. Doch sein Buch bleibt unvollendet, nach schwerer Krankheit stirbt Johannes Rau im Januar 2006.