Der unbekannte Visionär

26.05.2010
Niklas Maak zeigt in seinem Buch "Der Architekt am Strand" den charismatischen Visionär Le Corbusier von einer bisher kaum wahrgenommenen Seite. Denn der Architekt sammelte auch Muscheln, Schnecken und Krebspanzer - Objekte, die immer wieder in seinem Werk auftauchen.
Immer noch gilt der 1887 im Schweizer Kanton Neuenburg geborenen Le Corbusier als Hauptvertreter einer mechanistisch-rationalen Architektur. Seine kühnen Entwürfe und radikalen Vorschläge lösten stets heftige Kontroversen aus. 1925 schlug er vor, halb Paris abzureißen, um eine hypermoderne Hochhausstadt errichten zu können.

In seinem Buch "Städtebau", das im selben Jahr erschien, nannte er diesen Vorschlag "brutal", aber nur aus dem Grund, "weil der Städtebau brutal ist". Doch dieser Baumeister, dessen Interesse der reinen geometrischen Form galt, und der in der sachlichen Betonung den rechten Winkel favorisierte, hat "in seinem Leben mehr Muscheln gemalt als Häuser entworfen".

Ausgehend von der Wallfahrtskirche von Ronchamp, die Le Corbusier 1955 baute, zeigt Niklas Maak in seinem Buch "Der Architekt am Strand" den charismatischen Visionär von einer bisher kaum wahrgenommenen Seite. Bereits in den Zwanzigerjahren hat der Vertreter einer technoiden Ästhetik bei Strandspaziergängen damit begonnen, Muscheln, Schnecken und Krebspanzer zu sammeln. Er entwickelte eine "Schwäche für Muscheln und Seeschnecken".

In den Dreißigerjahren stellte er aus den Fundstücken eine Sammlung von "Naturobjekten" zusammen, auf deren Bedeutung er in seinem Traktat "An die Studenten" verwies: Sie würden, so Le Corbusier, "gemartert von den Elementen, physikalische Gesetze" vorführen. Mit der Hinwendung zu den organischen Formen vollzieht der Architekt, der seine rechteckigen Bauten in den Zwanzigerjahren auf "Pilotis-Stützpfeilern" stellte, einen Wandel.

Der zeigt sich deutlich an der Kirche von Ronchamp, die einer überdimensionalen Muschel gleicht. Doch trotz des von der Natur inspirierten Dachs von Ronchamp hat Le Corbusier seine Begeisterung für die modernen Formen von Schiffen, Automobilen und Flugzeugen, die er in die Architektur überführen wollte, nie aufgegeben.

Maak macht in seiner sehr lesbaren und interessant geschriebenen Studie deutlich, wie es Le Corbusier gelingt, Naturform, Mathematik und Mensch miteinander zu verbinden. In der sich spiralförmig gewundenen Schneckenform findet Le Corbusier jene ideale Naturform wieder, die als "Substanz ganz Mathematik" ist. Die Schnecke wird so zu einem entscheidenden Objekt für eine anders ausgerichtete Architektur, in der die Moderne nicht zurückgenommen wird, sondern sie erfährt in der Bezugnahme auf die Natur eine andere Ausrichtung.

Ein erhellendes Buch, in dem auch auf die Beziehungen des Architekten zum Dichter Paul Valery eingegangen wird, denn, so merkwürdig es klingt, Le Corbussier gibt als Beruf in seinem Ausweis nicht Architekt, sondern Schriftsteller an. Poesie ist für ihn das eigentliche Ziel seines Bauens. Dieser kühne Konstrukteur ist sehr viel mehr als der Erfinder der "Wohnmaschine".

Als Signet ziert die Seemuschel sein Moderneprojekt. Wer ihrer Bedeutung für Le Corbusier nachgeht, was Maak überzeugend getan hat, kommt zu einem anderen, facettenreicheren Bild des Architekten der Moderne.

Besprochen von Michael Opitz

Niklas Maak: Der Architekt am Strand, Le Corbusier und das Geheimnis der Seeschnecke
Edition Akzente, Carl Hanser Verlag, München 2010, 237 Seiten, 17,90 Euro