Der Mensch muss sich mehr als Teil der Natur begreifen

10.01.2013
Nach Ansicht des Geobiologen Reinhold Leinfelder (FU Berlin) haben die Eingriffe des Menschen in die Natur eine Dimension erreicht, die man als "Anthropozän" bezeichnen könnte. Drei Viertel des festen Landes auf der Erde sei nicht mehr ursprünglich, sondern vom Menschen umgestaltet.
Jörg Degenhardt: Die Ozeane, die Wüsten, die Wälder – vergessen Sie die Natur, wie wir sie kennen! Sie ist eine Idee der Vergangenheit! Hier ist eine neue: Der Mensch macht die Natur, sagen schlaue Leute. Klingt wie eine Provokation, diese Aussage, die zu den zehn Ideen gehört, die unser Leben verändern werden. Und damit sind wir schon beim Anthropozän-Projekt. Wie bitte, Anthropozän?

Anthropozän, der neue Leitbegriff zur Zukunft von Mensch und Erde, Mensch und Natur. Das Haus der Kulturen der Welt in Berlin nimmt sich der Sache an, das Ganze in Kooperation mit der Max-Planck-Gesellschaft, den Deutschen Museum und dem Rachel Carson Center in München, und das Deutschlandradio ist als Medienpartner auch noch mit dabei. Heute beginnt dazu die erste Veranstaltung.

Ich habe über das Projekt mit dem Geobiologen und Paläontologen Professor Dr. Leinfelder von der Freien Universität Berlin und dem Rachel Carson Center München gesprochen. Herr Leinfelder, der Mensch macht die Natur: Ist das nicht verkehrte Welt, schließlich kommt die Natur ohne uns aus, aber wir nicht ohne die Natur!

Reinhold Leinfelder: Wir müssen einfach mal auf die Fakten schauen, die doch sehr eindeutig sind, und es ist erst mal eine ganz nüchterne Analyse, was wir wissenschaftlich hier betreiben. Wir stellen eben fest, dass drei Viertel des festen Landes nicht mehr ursprünglich sind, also vom Menschen umgestaltet wurden. Hier sind das etwa 90 Prozent unseres Pflanzenwachstums bei uns in menschengemachten Regionen stattfindet, eben nicht mehr in der Natur draußen. Da ist etwa noch eine Zahl zu nennen, dass über 90 Prozent der Biomasse der Säugetiere durch den Menschen und seine Hausnutztiere dargestellt werden. Um das zu illustrieren, auf einen Tiger heute noch kommen so etwa 100.000 Hauskatzen. Sogar Sediment wird 30 Mal mehr umgelagert als natürlich ist, durch den Menschen, also durch die Landwirtschaft, durch Bautätigkeit und durch Bergbau.

Degenhardt: Sie sagen, der Mensch gestaltet um. Ist es nicht so, dass der Mensch zuallererst zerstört?

Leinfelder: Wir stellen erst mal fest: Wir sind sozusagen durch diese Masse der Eingriffe, die haben eine Kategorie erreicht, wenn wir Klima noch dazunehmen, wir haben den Menschen als geologischen Faktor. Und Sie haben recht, bislang doch oft überwiegend also sehr negativ. Und die Idee des Anthropozäns geht natürlich von dieser Beschreibung zwar nur aus, aber sehr viel weiter, die besagt eben, wir sollen wegkommen von diesem gedanklichen Unterschied – hier ist die gute Natur und dort ist der Mensch, eben meist böse mit seiner Technik –, sondern wir müssen uns mehr als Teil der Natur begreifen, unser ganzes Wirtschaften. Und wir haben doch diese Kraft, das zeigen doch die Zahlen eben auch. Wir müssten sie nur wissensbasiert ins Positive kehren. Bedeutet natürlich ganz viel an Konsequenzen, dass unsere Wirtschaftsweisen anders wirken, mehr in Richtung Recycling, mehr in Richtung Fußabdruckminimierung, dass wir uns die Langfristigkeit unseres Denkens sehr viel besser vor Augen halten und dass wir einfach sehr viel mehr Verantwortung übernehmen, jeder Einzelne von uns.

Degenhardt: Wenn Sie sagen Fußabdruck minimieren, was meinen Sie damit? Dass wir die Natur, die Erde künftig nicht mehr so ausbeuten dürfen wie bisher?

Leinfelder: Ja, wenn wir wirklich ein Menschenzeitalter haben wollen, nicht nur so ein Aussterbeereignis der Natur, und wenn wir dieses Anthropozän möglichst lange dauern lassen wollen, dann müssen wir natürlich aus Verantwortung für dieses Anthropozän so wirtschaften, dass die Sachen nicht nur für unsere Generationen reichen und für die vielleicht nächste, sondern für viele Tausende und Zehntausende von Jahren. Das bedeutet wirklich, dass wir uns überlegen müssen: Wir müssen viel mehr zu einer Kreislaufwirtschaft kommen, damit eben auch die nachkommenden Generationen ähnliche Voraussetzungen haben wie wir.

Degenhardt: Für dieses Denkmodell, das Sie in Ansätzen hier nur beschreiben können, brauchen wir neue Strategien, ästhetische, kulturelle. Wo sind die aber?

Leinfelder: Es geht darum, dass wir wirklich zu einer integrierten Wissensgesellschaft kommen, dass Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften, aber auch die Gesellschaft ganz eng zusammenarbeiten muss, mit der Politik, jeder muss das sozusagen mit schultern. Und dazu brauchen wir ganz viel Dialog, ganz viel Nachdenken, Überdenken, Vordenken, und das wollen wir etwa in diesem Anthropozän-Projekt nun eben mit einem doch ziemlich großen Aufschlag üben!

Degenhardt: Anthropozän denken – könnten Sie uns das noch mal kurz buchstabieren, was genau meinen Sie damit?

Leinfelder: Das bedeutet, dass wir uns als Teil der Natur verstehen, dass wir abhängig sind von der Natur, dass wir sozusagen von den Stiftungserträgen der Natur leben und dass das, was wir herausnehmen, natürlich irgendwie auch wieder zurückgegeben werden muss. Das heißt, wir benötigen so etwas wie ein gärtnerisches, ein wissensbasiertes, gärtnerisches Umgehen mit der Natur. Und das fängt beim Wirtschaften, auch beim persönlichen Wirtschaften an, was in Richtung Recycling, Upcycling, Müllvermeidung et cetera geht. Das geht dann aber auch weiter in Partizipatives, dass man sich einbringt auch in die Wissenssysteme, dass man mitdiskutiert, vielleicht auch bei Wissenschaftsprojekten mitmacht, um sozusagen das Anthropozän auch selbst mit zu gestalten.

Degenhardt: Aber ist das Vordenken nicht eher zum Beispiel eine schwache Seite der Politik, die ja doch mehr auf den kurzfristigen Erfolg setzt, auch eine schwache Seite der Wirtschaft, die auf den eher kurzfristigen Profit zielt?

Leinfelder: Ja, deswegen brauchen wir die ganze Gesellschaft. Deswegen muss sich dieses Anthropozän-Denken noch besser ausbreiten, sodass auch unser Handeln, auch politische Entscheidungen auch danach bemessen werden, welche Auswirkungen sie langfristig haben, und eben da, auch bei Entscheidungen, die heute zu fällen sind, wir sprechen da gerne vom langen Jetzt, berücksichtigt wird, dass die nun Auswirkungen für viele, viele, teilweise Tausende von Jahren haben, Beispiel Klima.

Degenhardt: Ich wollte gerade nach einem Beispiel fragen, gibt es außer dem Klima ein weiteres, das Sie hier anführen können, um auch deutlich zu machen, dass es hier um mehr geht als um theoretische Erwägungen?

Leinfelder: Ja, wir haben die Phosphorvorräte der Erde so gut wie aufgebraucht. Wenn wir die jetzt nicht anfangen zu recyceln, haben wir bald keine mehr, was verheerende Auswirkungen für die Landwirtschaft natürlich hat. Wenn wir Arten verdrängen, die wir auch für die Stabilität der Ökosysteme brauchen, vielleicht auch mal für unsere Ernährung, wenn wir die verdrängen, sind sie weg, die kommen nie mehr wieder, so eine mittlere Dauer eines Wiederkehrens vergleichbarer Arten durch die Erdgeschichte beträgt so etwa eine Million Jahre. Das zeigt natürlich, an welche langfristigen Skalen wir uns da auch gewöhnen müssen.

Degenhardt: Professor Dr. Reinhold Leinfelder war das zum Anthropozän-Projekt des Hauses der Kulturen der Welt. Das startet heute mit einer ersten Veranstaltung. Mehr zum Thema auch im "Radiofeuilleton" gegen 14:07 Uhr!

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