Der Klimawandel und die Geisteswissenschaften

Von Claus Leggewie · 16.10.2008
Der Klimawandel erfordert von der Welt-Gesellschaft immense, zum Teil nicht einmal gedachte Anpassungen. Vorkehrungen gegen extreme Wetterereignisse kann man unter der Überschrift "Katastrophenschutz" verbuchen. Bedeutender ist, wie Gesellschaften und Kulturen in 20, 50 und 100 Jahren aussehen werden, die deutlich wärmer sind als heute.
Zu den gängigen Klimaprognosen Erwärmung, Meeresspiegel-Anstieg, langfristige Folgen für die Nahrungsmittel-Produktion müssen also Szenarien gesellschaftlich-kultureller Entwicklung treten, die ernsthafter sind als die Alarmrufe oder Beruhigungspillen einer oberflächlichen Trendforschung.

Zur Klärung dieser Fragen haben die Naturforscher, als welche die meisten Klimatologen ausgebildet sind, nicht die notwendigen Kompetenzen. Zugleich haben sich Sozial- und Kulturwissenschaftler – für solche Materien eigentlich zuständig – lange gedrückt. Jetzt geht es darum, Wissenslücken und Rückstände gemeinsam aufzuholen und sich unter anderem den folgenden Fragen zu stellen:

Thema Evolution. Welche Anpassungsleistungen kommen auf die Menschheit zu, welche Anpassungsfähigkeiten hat sie in der Geschichte erlangt? Gut erforscht ist beispielsweise die "kleine Eiszeit" nach 1650. Hier sind aber auch Archäologen und Anthropologen und viele andere gefragt, die aus der Natur- und Kulturgeschichte nicht etwa platte Lehren für die Zukunft ableiten, sondern das Urteilsvermögen für die Natürlichkeit des Menschen und die kulturelle Verschiedenheit ihrer Reaktionen auf Krisen und Katastrophen schärfen.

Zweitens, Thema Demokratie. Sind liberal-demokratische Systeme auf die Folgen des Klimawandels eigentlich eingestellt oder autoritäre Regime etwa besser geeignet? Und was bedeutet dies für nationale Souveränität? Globaler Klimawandel erfordert globale Regulierung – welche Kraft haben da supra- und transnationale Regime?

Wird die Weltbevölkerung nur als Adressat von Maßnahmen gedacht, die sich Experten ausdenken und Regierungen umsetzen? Oder ist eine neue Kultur der Teilhabe denkbar, die diesseits der Expertenzirkel und Politiker-Politik auch der Bürgergesellschaft Spielräume für eigenständiges und verantwortliches Handeln lässt? Nicht nur Politologen und Juristen sind hier gefragt, die neue, vielleicht auch uralte Rolle des Staates zu durchdenken und Muster multilateraler Kooperation auszuloten.

Drittes Thema: Märkte. Können die Märkte, die gerade in ungekannte Turbulenzen geraten sind, noch die Mittel aufbringen, die für Klimaschutz und Anpassungsziele erforderlich sind? Zieht die kostspielige Reparatur des Bankensystems Milliarden ab – oder sind Öko-Investitionen eventuell ein Mittel der Transformation? Oder sind Klima-Zertifikate gar die Treiber der nächsten Spekulationswelle? Jedenfalls kann die Einrechnung von Klimakosten die im neo-liberalen Dogma befangene Wirtschaftswissenschaft auf neue Ideen bringen. Hier hört man aber auch besser auf praktische Philosophen und Ethiker.

Damit zum Thema Werte und Einstellungen. Klimabewusste Menschen fragen sich ja täglich, warum es uns so schwer fällt, von den unabweisbaren Einsichten in ihre Notwendigkeit zu wirklich nachhaltigen Verhaltensänderungen vorzudringen. Dazu haben Psychologen und all jene etwas zu sagen, die die widersprüchliche Natur des Menschen in der Literatur, in der Bildenden Kunst und in den populären Massenmedien behandeln, die sich wie eine zweite Natur vor’s Klimageschehen legen.

Man sieht an diesen Beispielen, wie notwendig und nützlich die oft als überflüssig geschmähten Geisteswissenschaften jetzt sein können. Natürlich wird nicht Jeder verdonnert, nur Klimafreundliches zu erforschen, aber es herrscht ein neuer Ernst in den Wissenschaften. Universitäten, Stiftungen und Ministerien fangen an, das zu begreifen. Aufmerksamkeit für den Klimawandel ist aber nicht ihre Sache allein. Der damit verbundene Kulturwandel ist das größte Real-Experiment der Menschheit seit langem. Und er birgt auch Chancen für ein besseres Leben – wenn wir verstehen lernen, dass weniger mehr sein kann.


Claus Leggewie, geb.1950 in Wanne-Eickel, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen und Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen. Er studierte Sozialwissenschaften und Geschichte in Köln und Paris und promovierte bei Bassam Tibi über Frankreichs Kolonialpolitik in Algerien. Nach der Habilitation wurde er 1986 zum Professor an der Universität Göttingen ernannt und wechselte 1989 an die Universität in Gießen.

Von 1995 bis 1997 lehrte Leggewie als erster Inhaber des Max-Weber-Chair am Center for European Studies an der New York University. 2000/2001 war er Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin, 2006 Körber-Fellow am Institut für die Wissenschaften am Menschen, Wien. Leggewies Thema ist die "kollektive Identität postmoderner Gesellschaften im Zeitalter der Globalisierung". Seine Bücher handeln unter anderem vom "Islam im Westen" (1993), vom Internet (1999) und von Amerika ("Amerikas Welt: Die USA in unseren Köpfen", 2000). 2005 erschien sein Buch (mit Erik Meyer) "Ein Ort, an den man gerne geht. Das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik 1989".
Claus Leggewie
Claus Leggewie© Stiftung Mercator, Essen